372 Morgenröthe
sich N. sehr interessierte. Die weltanschaulich allgemeinste Grundlage der rea-
listischen Wende im Grünen Heinrich ist der Atheismus: der Abschied vom Jen-
seitsglauben zugunsten einer entschlossenen Diesseitsorientierung. Dafür
steht an einer Schlüsselstelle des Romans selbst der Name Feuerbach. Gottfried
Keller, den N. sehr schätzte, hatte die Vorlesungen des Philosophen während
seines Heidelberger Aufenthalts im Jahr 1849/50 gehört. Feuerbachs „anthro-
pologische Reduktion", die Erklärung aller religiösen Jenseitsvorstellungen zu
bloßen Projektionen und die Forderung nach Rücknahme solch theologisch
fixierter Selbstentfremdung, hatte sich Gottfried Keller, ähnlich wie N., zu ei-
gen gemacht. Deshalb stellte er im Grünen Heinrich alles Religiöse als Lebens-
verfehlung dar, ja als wahnhafte Abirrung von der Menschennatur, die ihre
Erfüllung im Diesseits findet, sofern der Mensch nicht zu lange und zu tief der
Selbstentfremdung verfällt oder gar von ihr ruiniert wird. Der Wendung von
der Jenseitsorientierung zur Lebensrealität entspricht diejenige des Protagonis-
ten, der ebenfalls Maler ist, von romantischen Phantasiegebilden zu ,realis-
tisch'-naturgetreuen Landschaftsgemälden. Aber das ist zugleich, wie bei Stif-
ter, das Ende seiner Künstlerlaufbahn.
N.s abschließender Satz in M 433: „So sehr hat die Wirkung der Wissen-
schaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Künstler des Jahrhunderts,
ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen ,Seligkei-
ten' an sich geworden sind" (266, 28-32) - dieser Satz zielt auf einen ,Realis-
mus', der bereits in den Naturalismus übergeht. Er hat einen zeitgenössischen
Kontext, dem N.s Aussage weitgehend entspricht. Gerade als er an der Morgen-
röthe zu schreiben begann, erschien Emile Zolas Roman experimental (1879/
80). Als sein unmittelbares Vorbild zitiert Zola selbst immer wieder ausführlich
eine Schrift des Mediziners Claude Bernard: Introduction ä l'etude de la medeci-
ne experimentale (1865). Diese Schrift ist im Geist des Positivismus konzipiert,
wie ihn Comte verbreitete. Sie beruft sich auf das strikt induktiv-empirische
Verfahren, das der von den deutschen Naturalisten vielgelesene und auch von
N. intensiv studierte John Stuart Mill entwickelt hatte in seinem System of Lo-
gic, Ratiocinative and Inductive: Being a Connected View of the Principles of
Evidence and the Methods of Scientific Investigation (1843).
Dass Zola Bernards medizinische Abhandlung nicht einfach adaptiert, son-
dern demonstrativ benutzt, hat programmatisch-,naturalistische' Bedeutung:
Die traditionelle Distanz zwischen Naturwissenschaften („sciences") und Medi-
zin einerseits und der Sphäre von Literatur und Kunst („arts") andererseits
soll aufgehoben werden, indem sich die Literatur auf Verfahrensweisen der
Naturwissenschaft und der Medizin verpflichtet. Die Analogie schon im Titel ist
auffallend: Bernard spricht von „medecine experimentale", Zola vom „roman
experimental", um den induktiv-experimentellen Charakter einer an die Seite
sich N. sehr interessierte. Die weltanschaulich allgemeinste Grundlage der rea-
listischen Wende im Grünen Heinrich ist der Atheismus: der Abschied vom Jen-
seitsglauben zugunsten einer entschlossenen Diesseitsorientierung. Dafür
steht an einer Schlüsselstelle des Romans selbst der Name Feuerbach. Gottfried
Keller, den N. sehr schätzte, hatte die Vorlesungen des Philosophen während
seines Heidelberger Aufenthalts im Jahr 1849/50 gehört. Feuerbachs „anthro-
pologische Reduktion", die Erklärung aller religiösen Jenseitsvorstellungen zu
bloßen Projektionen und die Forderung nach Rücknahme solch theologisch
fixierter Selbstentfremdung, hatte sich Gottfried Keller, ähnlich wie N., zu ei-
gen gemacht. Deshalb stellte er im Grünen Heinrich alles Religiöse als Lebens-
verfehlung dar, ja als wahnhafte Abirrung von der Menschennatur, die ihre
Erfüllung im Diesseits findet, sofern der Mensch nicht zu lange und zu tief der
Selbstentfremdung verfällt oder gar von ihr ruiniert wird. Der Wendung von
der Jenseitsorientierung zur Lebensrealität entspricht diejenige des Protagonis-
ten, der ebenfalls Maler ist, von romantischen Phantasiegebilden zu ,realis-
tisch'-naturgetreuen Landschaftsgemälden. Aber das ist zugleich, wie bei Stif-
ter, das Ende seiner Künstlerlaufbahn.
N.s abschließender Satz in M 433: „So sehr hat die Wirkung der Wissen-
schaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Künstler des Jahrhunderts,
ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen ,Seligkei-
ten' an sich geworden sind" (266, 28-32) - dieser Satz zielt auf einen ,Realis-
mus', der bereits in den Naturalismus übergeht. Er hat einen zeitgenössischen
Kontext, dem N.s Aussage weitgehend entspricht. Gerade als er an der Morgen-
röthe zu schreiben begann, erschien Emile Zolas Roman experimental (1879/
80). Als sein unmittelbares Vorbild zitiert Zola selbst immer wieder ausführlich
eine Schrift des Mediziners Claude Bernard: Introduction ä l'etude de la medeci-
ne experimentale (1865). Diese Schrift ist im Geist des Positivismus konzipiert,
wie ihn Comte verbreitete. Sie beruft sich auf das strikt induktiv-empirische
Verfahren, das der von den deutschen Naturalisten vielgelesene und auch von
N. intensiv studierte John Stuart Mill entwickelt hatte in seinem System of Lo-
gic, Ratiocinative and Inductive: Being a Connected View of the Principles of
Evidence and the Methods of Scientific Investigation (1843).
Dass Zola Bernards medizinische Abhandlung nicht einfach adaptiert, son-
dern demonstrativ benutzt, hat programmatisch-,naturalistische' Bedeutung:
Die traditionelle Distanz zwischen Naturwissenschaften („sciences") und Medi-
zin einerseits und der Sphäre von Literatur und Kunst („arts") andererseits
soll aufgehoben werden, indem sich die Literatur auf Verfahrensweisen der
Naturwissenschaft und der Medizin verpflichtet. Die Analogie schon im Titel ist
auffallend: Bernard spricht von „medecine experimentale", Zola vom „roman
experimental", um den induktiv-experimentellen Charakter einer an die Seite