380 Morgenröthe
Vor allem: Marc Aurel steht auf der Grundlage des stoischen Glaubens an
die All-Natur, die φύσις των όλων, die von einem alles durchwaltenden und
alles bestimmenden Logos („Gesetz" und zugleich Vernunft) zeugt. N. kannte
aus dem Diogenes Laertius den Fundamentalsatz Zenons, des Begründers der
Stoa, dem auch noch die mittlere Stoa und Marc Aurel folgen: Zenon statuiert
„das gemeinsame Gesetz, welches der richtige Logos ist, der durch alles hin-
durchgeht" (0 νόμος ό κοινός, δσπερ έστ' ιό όρθός λόγος, διά πάντων έρχόμε-
νος, Diogenes Laertius VII 88). Aus diesem Fundamentalsatz leitete die Stoa
ein naturhaft im Menschen verankertes Gemeinschaftsgefühl ab, das die mitt-
lere Stoa und in ihrem Gefolge Marc Aurel zur „Allsympathie" (συμπάθεια των
δλων), ja zur Vorstellung der „Allverwandtschaft" steigerte. Daraus resultierte
ein ausgeprägtes Gemeinschafts- und Staatsethos. Das entsprechende politi-
sche Verantwortungsdenken adaptierte Marc Aurel aufgrund seiner Rolle als
Kaiser intensiv. N. dagegen favorisiert den „Einzelnen", das große „Individu-
um", das sich von allen andern abheben soll; eine auf die Allgemeinheit bezo-
gene „Moral" verweist er ins Reich der „moralischen Vorurtheile", die es zu
bekämpfen gelte.
Wenn Marc Aurel konstatiert: „Dem Unmöglichen nachzujagen ist Wahn-
sinn" (To τά άδύνατα διώκειν μανικόν, V, 17), so meint er als Staatsmann wahr-
scheinlich Platons Entwurf des Idealstaats in der Politeia. N. propagiert später
hingegen den Übermenschen. Obwohl er alle metaphysischen Trost- und Heils-
verheißungen des Christentums verabschiedet, zeigt er kein Interesse an Marc
Aurels stoischem Trost, dass der Tod nichts anderes bedeute als ein Eingehen
in die All-Natur. Auch das gerade solche Tröstungen begleitende melancholi-
sche Vergänglichkeitsbewusstsein, aufgrund dessen Marc Aurel sich immer
wieder zur Selbstrelativierung und Selbstbescheidung mahnt, ist N. eher
fremd, da er sich als Vordenker der „Zukunft" versteht. Dennoch versucht er
im folgenden Text (Μ 450) ausdrücklich an Marc Aurel anzuknüpfen.
450
273, 2 Die Lockung der Erkenntniss.] Der in Anführungszeichen ste-
hende Satz, mit dem sich N. am Ende auf Marc Aurel beruft, ist eine sehr freie
Adaptation einer Maxime aus dem 4. Buch der Selbstermahnungen (7. Ab-
schnitt). Textgetreu übersetzt lautet diese Maxime: „Lass das Vorurteil weg;
weg ist [dann auch] die Vorstellung: ,ich bin geschädigt'; lass auch dieses ,ich
bin geschädigt' weg, so ist auch der Schaden weg" (Άρον τήν ύπόληψιν, ήρται
τό βέβλαμμαι. άρον το βέβλαμμαι, ήρται ή βλάβη). Ν. zitiert aus der Überset-
zung, die er in seiner persönlichen Bibliothek hatte (Mark Aurel 1866, 35). Den
schwer wiederzugebenden Begriff ύπόληψις, der im engeren philosophischen
Vor allem: Marc Aurel steht auf der Grundlage des stoischen Glaubens an
die All-Natur, die φύσις των όλων, die von einem alles durchwaltenden und
alles bestimmenden Logos („Gesetz" und zugleich Vernunft) zeugt. N. kannte
aus dem Diogenes Laertius den Fundamentalsatz Zenons, des Begründers der
Stoa, dem auch noch die mittlere Stoa und Marc Aurel folgen: Zenon statuiert
„das gemeinsame Gesetz, welches der richtige Logos ist, der durch alles hin-
durchgeht" (0 νόμος ό κοινός, δσπερ έστ' ιό όρθός λόγος, διά πάντων έρχόμε-
νος, Diogenes Laertius VII 88). Aus diesem Fundamentalsatz leitete die Stoa
ein naturhaft im Menschen verankertes Gemeinschaftsgefühl ab, das die mitt-
lere Stoa und in ihrem Gefolge Marc Aurel zur „Allsympathie" (συμπάθεια των
δλων), ja zur Vorstellung der „Allverwandtschaft" steigerte. Daraus resultierte
ein ausgeprägtes Gemeinschafts- und Staatsethos. Das entsprechende politi-
sche Verantwortungsdenken adaptierte Marc Aurel aufgrund seiner Rolle als
Kaiser intensiv. N. dagegen favorisiert den „Einzelnen", das große „Individu-
um", das sich von allen andern abheben soll; eine auf die Allgemeinheit bezo-
gene „Moral" verweist er ins Reich der „moralischen Vorurtheile", die es zu
bekämpfen gelte.
Wenn Marc Aurel konstatiert: „Dem Unmöglichen nachzujagen ist Wahn-
sinn" (To τά άδύνατα διώκειν μανικόν, V, 17), so meint er als Staatsmann wahr-
scheinlich Platons Entwurf des Idealstaats in der Politeia. N. propagiert später
hingegen den Übermenschen. Obwohl er alle metaphysischen Trost- und Heils-
verheißungen des Christentums verabschiedet, zeigt er kein Interesse an Marc
Aurels stoischem Trost, dass der Tod nichts anderes bedeute als ein Eingehen
in die All-Natur. Auch das gerade solche Tröstungen begleitende melancholi-
sche Vergänglichkeitsbewusstsein, aufgrund dessen Marc Aurel sich immer
wieder zur Selbstrelativierung und Selbstbescheidung mahnt, ist N. eher
fremd, da er sich als Vordenker der „Zukunft" versteht. Dennoch versucht er
im folgenden Text (Μ 450) ausdrücklich an Marc Aurel anzuknüpfen.
450
273, 2 Die Lockung der Erkenntniss.] Der in Anführungszeichen ste-
hende Satz, mit dem sich N. am Ende auf Marc Aurel beruft, ist eine sehr freie
Adaptation einer Maxime aus dem 4. Buch der Selbstermahnungen (7. Ab-
schnitt). Textgetreu übersetzt lautet diese Maxime: „Lass das Vorurteil weg;
weg ist [dann auch] die Vorstellung: ,ich bin geschädigt'; lass auch dieses ,ich
bin geschädigt' weg, so ist auch der Schaden weg" (Άρον τήν ύπόληψιν, ήρται
τό βέβλαμμαι. άρον το βέβλαμμαι, ήρται ή βλάβη). Ν. zitiert aus der Überset-
zung, die er in seiner persönlichen Bibliothek hatte (Mark Aurel 1866, 35). Den
schwer wiederzugebenden Begriff ύπόληψις, der im engeren philosophischen