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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0396
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 273-274 381

Sinn ,Vorbegriff' bedeutet, verstärkt der Übersetzer zu „Wahn"; den Ausdruck
„ich bin geschädigt" ersetzt er durch den intensivierenden Ausruf „Wehe mir!"
und den „Schaden" durch „das Wehe". N.s Rückbezug dieser Maxime auf den
„Ton der süssen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft ver-
kündet hat" (273, 7 f.), meint die Beseitigung bloßer Einbildungen und Vorur-
teile durch die „Erkenntniss". Sie lässt „den Wahn schwinden" (273, 10). Diese
eigenwillige Marc Aurel-Übersetzung konnte N. zugleich als eine Umkehrung
der in der Geburt der Tragödie in Anlehnung an Wagner als notwendig erachte-
ten Hingabe an den „Wahn" verstehen. Als die „drei Abgründe" der Tragödie
hatte er dort in Wagners stabreimender Manier „Wahn, Wille, Wehe" beschwo-
ren (KSA 1, 132, 10); nunmehr, in M 450, sagt er sich von dem „Wahn" und mit
ihm auch von dem ehemals als tragische Daseins-Notwendigkeit verstandenen
„Wehe" los.
451
273, 14 Wem ein Hofnarr nöthig ist.] „Hofnarren" waren an manchen
Fürsten- und Königshöfen etabliert, vor allem, um durch ihre Narrheiten zur
Erheiterung und zur Auflockerung der vom steifen Hofzeremoniell bestimmten
Atmosphäre beizutragen, weniger um die „Wahrheit" auszusprechen, obwohl
auch dies zum erwünschten Ausnahmefall des Normenbruchs beitragen konn-
te. Vor allem in den literarischen Gestaltungen der Rolle hat der Hofnarr das
„Vorrecht", die Wahrheit zu sagen. Ein berühmtes Beispiel ist der Narr in
Shakespeares König Lear, der in seinen gleichnishaften Sprüchen die Wahrheit
über eine verkehrte Welt ausspricht (König Lear III, 2).
452
273, 28 Ungeduld.] Wie insbesondere die Vorstellung des „abenteuernden"
Verhaltens in Verbindung mit derjenigen der „Wanderung und Übung" nahe-
legt, denkt N. auch an sein eigenes Verfahren als ,Moralist', das ihn in die
verschiedensten Bereiche führt und dort experimentieren lässt. Zugleich fasst
er dies als „Übungsstätte des Intellects" auf. Vgl. Μ 432, M 476, FW 324.
453
274, 8 Moralisches Interregnum.] Das Problem, „Das zu beschreiben,
was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile ablösen wird" (274, 9 f.),
ergibt sich für N. aus der Kritik nicht nur der - laut Untertitel - „moralischen
 
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