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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0397
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382 Morgenröthe

Vorurtheile", sondern auch grundsätzlich der Moral. Deshalb ist hier nicht bloß
von „Vorurtheilen", sondern von moralischen „Urtheilen" die Rede. Mit „Ur-
theilen" meint er implizit auch die Wertschätzungen und Wertungen, die den
„Urtheilen" zugrunde liegen. Deshalb entwirft N. später das Programm einer
„Umwerthung aller Werte". Doch bleibt dabei die Schwierigkeit bestehen, dass
auch die Umwertung und die aus ihr hervorgehenden neuen Werte nur vom
historisch und psychologisch zu relativierenden, folglich auch wieder bloß vor-
urteilshaften Standpunkt: aus der „Perspektive" von umwertenden und neue
Werte setzenden Menschen zustandekommen könnten. Dieser Stand der Refle-
xion ist im vorliegenden Text allerdings noch nicht erreicht. Deshalb denkt N.
nicht an die Konsequenz der pyrrhonischen Skepsis (vgl. NK M 82), die zur
strikten Urteilsenthaltung führt, sondern setzt noch auf „unsere Wissenschaf-
ten" (274, 16). Zwischen der Vergangenheit einer obsoleten Moral und der von
ihm erhofften Zukunft jenseits von Gut und Böse postuliert er als Zwischen-
Reich, als „Interregnum" (274, 22), ein Stadium des Experimentierens, aller-
dings ohne eine wissenschaftliche Methode des Experimentierens anzugeben.
Die abschließende Erklärung: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!"
(274, 24) lässt einen lediglich voluntativ formierten anthropologischen Ansatz
erkennen. Die vorausgehende Überlegung, in dem „Interregnum" seien „kleine
Versuchsstaaten" möglich, in denen wir „unsere eigenen reges" (274, 22 f.)
zu sein vermögen, ist kaum mehr als eine Metapher für das eigene Experimen-
tierfeld in der Morgenröthe, auf die er auch noch keinen „neuen Tag" folgen
sieht, wie ein nachgelassenes Notat zu verstehen gibt (NL 1881, 12[162], KSA 9,
604).
Den biographischen Hintergrund für die Vorstellung vom Experimentieren
mit sich selbst erhellt ein Brief an den Arzt Otto Eiser Anfang Januar 1880, also
bereits bei Beginn der Arbeit an der Morgenröthe. Darin heißt es: „Meine Exis-
tenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen,
wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem
Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsa-
gung machte - diese erkenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen,
wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich
glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Beständiger Schmerz, mehrere
Stunden des Tages ein der Seekrankheit eng verwandtes Gefühl einer Halb-
Lähmung, wo mir das Reden schwer wird, zur Abwechslung wüthende Anfälle
(der letzte nöthigte mich 3 Tage und Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete
nach dem Tode)." (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 1)
In der auf die Morgenröthe folgenden Aphorismen-Sammlung Die fröhliche
Wissenschaft greift N. die Vorstellung des Experimentierens erneut auf, auch
die Auffassung des Menschen als eines Experiments in M 319 u. Μ 324. Zum
 
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