Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0398
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 274 383

zeitgenössischen Kontext experimentellen Denkens vgl. NK Μ 433. Den Begriff
der ,Experimentalphilosophie' kannte N. aus philosophiegeschichtlichen Dar-
stellungen. Entstanden war er aus der frühneuzeitlichen Ablösung vom aristo-
telisch-scholastischen Weltbild und von der auf begriffliche Rationalität und
Funktionalität fixierten Methode, die Aristoteles in seinen später unter dem
Sammeltitel Organon zusammengefassten logischen Schriften verfolgte (darun-
ter vor allem die Kategorien, die beiden Analytiken und die Topik). Kopernikus,
Kepler und Galilei hatten sich aufgrund ihrer in zielgerichteten und kontrollier-
ten Experimenten gewonnenen Beobachtungen schon explizit von Aristoteles
abgewandt. Der programmatische Titel von Francis Bacons Schrift Novum Or-
ganum (1620) verrät die prinzipielle Neuorientierung gegenüber dem aristoteli-
schen Organon (zu Bacon vgl. den Überblickskommentar S. 19 f.). Das Expe-
riment wird darin als theoretische Methode dargestellt, die zur praxisorien-
tierten Naturbeherrschung mittels neuer Erkenntnisse und zugleich zur
Überwindung kanonisierter alter Vorstellungen führen soll. Bereits 1651 huldig-
te George Thomson seinem Landsmann Bacon in der Schrift A vindication of
Lord Bacon, the auctor of experimental philosophy. Robert Boyle (1627-1691)
pries Bacon als „one of the first and greatest experimental philosophers of our
age" (Boyle 1744, Bd. 2, 514). Boyle, als Physiker und Chemiker bekannt und
einer der Begründer der Royal Society, arbeitete den theoretischen Anspruch
weiter aus, indem er zunächst die aristotelische Naturphilosophie als spekula-
tiv zurückwies und ihr die „Experimental Natural Philosophy" als „true and
solid" entgegenstellte. Dabei bezog er sich nicht nur auf die experimentell er-
zielten Fortschritte in den Naturwissenschaften, zu deren prominenten Vertre-
tern er selbst gehörte; er hob darüber hinaus auch die Bedeutung für die Verän-
derung des Bewusstseins der Menschen hervor („in reference to the Mind of
Man"; Boyle 1744, Bd. 2, 5).
Nach mancherlei Zurückweisungen des philosophischen Anspruchs, der
sich im Begriff der ,Experimentalphilosophie' ausdrückt (u. a. durch Kant und
Hegel), vollzieht N. eine spekulative Wendung zur Anthropologie, für die er
den Begriff der Experimentalphilosophie reaktualisiert. Allerdings sind in der
Formulierung „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!" Subjekt und
Objekt des Experimentierens identisch, wie auch in M 501, so dass der Begriff
des Experiments zur Metapher der Offenheit des nicht fixierten Menschen für
nicht absehbare künftige Erfahrungen wird. N. begibt sich in ein selbst kon-
struiertes Versuchsfeld, wie dies auch Emile Zolas „roman experimental" am
allerdings fiktional vom Autor arrangierten Geschehen vorführt (vgl. NK M
433). Schon in Menschliches, Allzumenschliches I heißt es: „Und indem du mit
aller Kraft vorauserspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft
wird, bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften