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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0400
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 274-275 385

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275, 9 Eine werdende Tugend.] Der am Beginn dieses Textes stehende
Hinweis auf die Behauptungen „der antiken Philosophen von der Einheit der
Tugend und Glückseligkeit" zielt vor allem auf die von Platon dargestellte Leh-
re des Sokrates, aber auch auf weitere philosophische Schulen. Im Zarathustra-
Kapitel „Von der verkleinernden Tugend" versucht N. die „Lehre von
Glück und Tugend" auf eine den Menschen verkleinernde Tugend hin zu
interpretieren und damit zu diskreditieren (KSA 4, 213, 13-15). Das deutsche
Wort „Tugend", das eine im engeren Sinn moralische Qualität bezeichnet, ent-
spricht allerdings nicht dem griechischen Begriff der Arete und ist deshalb eher
missverständlich. Die deutsche Sprache kennt kein Wort, das dem griechischen
άρητή äquivalent ist (~ Vortrefflichkeit, Auszeichnung, sowohl in der Gesin-
nung wie in der Tat, u. a. auch sittliche Vollkommenheit); die behelfsmäßige
Übersetzung „Tugend" war aber fest etabliert. Das Wort „Glückseligkeit" soll
das griechische εύδαιμονία wiedergeben, geht aber, nicht zuletzt aufgrund reli-
giöser Konnotationen, weit darüber hinaus. Deshalb ist auch εύδαιμονία, ein
Leitbegriff der griechischen Philosophen, mit dem deutschen Wort „Glück" nur
unzureichend wiederzugeben. Bei Epikur z. B. bedeutet es eher bloß „Wohlbe-
finden". Das Zitat „,Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch
solches Alles zufallen!"' (275, 12 f.) stammt aus dem Evangelium des Matthäus
(6, 33), vgl. Lukas 12, 31. Die Wendung „in honorem majorem" (275, 18), „zur
größeren Ehre", erinnert an die bekannte, auf Papst Gregor den Großen zurück-
gehende und von den Jesuiten zum Wahlspruch erhobene Formel „in maiorem
dei gloriam": „zum größeren Ruhme Gottes".
Anschließend beruft sich N. - charakteristisch für seine ,realistische', des-
illusionierende Wende seit Menschliches, Allzumenschliches und in der Morgen-
röthe - auf die „Wirklichkeit" (275, 19). Indem er dann von einer „Stufe der
Wahrhaftigkeit" spricht (275, 20), historisiert er das Wahrheitsempfinden.
Die „Redlichkeit" (275, 24 f.), die N. unter den sokratischen und den christ-
lichen Tugenden vermisst, fasst er als eine philosophisch-kritische Unbedingt-
heit auf, die keine Illusionen, insbesondere keine moralischen und religiösen
Vorstellungen mehr zulässt. Indem er allerdings immer noch von „Wahrhaftig-
keit", „Wahrheit" und „Tugenden" spricht, gerät er selbst ins Gebiet morali-
scher Vorstellungen. Die Forderung der „Redlichkeit" durchzieht eine ganze
Reihe von Texten der Morgenröthe und auch die nachgelassenen Notate. Nicht
zuletzt bedeutet Redlichkeit für N.: „Redlichkeit gegen sich selber"
(Μ 167, 150, 12 f.). Diese Redlichkeit gilt es vor allem dort zu üben, wo die Ge-
fahr der Selbsttäuschung am größten ist: im Hinblick auf Autoritäten, auf
Macht- und Einfluss-Figuren (für N. waren das geraume Zeit Wagner und Scho-
penhauer gewesen), auf Vorstellungen, die man aus Bequemlichkeit oder Be-
 
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