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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0403
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388 Morgenröthe

nämlich gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit. / Ist diess Heute
nicht des Pöbels? Pöbel aber weiss nicht, was gross, was klein, was gerade und
redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt immer" (KSA 4, 360, 20-24).
457
275, 30 Letzte Schweigsamkeit.] Vgl. Μ 259. Vom Schweigen handelt
schon der erste Text (Μ 423) des Fünften Buchs: „Im grossen Schwei-
gen", aber dort ist es nicht ein Schweigen aus Diskretion, sondern aus dem
Erlebnis des denkerischen Verstummens angesichts der stummen Natur. Auf-
grund des permanenten Redens und der damit verbundenen Rhetorik, auch
aufgrund der gerade nicht auf Diskretion angelegten psychologischen Methode
N.s gewinnt die Reflexion auf Formen und Ursachen des Schweigens ein kom-
pensatorisches Interesse.
458
276, 9 Das grosse Loos.] In der Zeit der Morgenröthe und der Fröhlichen
Wissenschaft legt N. angesichts der rasant zunehmenden allgemeinen Verfüg-
barkeit von Erkenntnis und Wissen sowie aus der Sorge um den daraus resul-
tierenden Authentizitäts- und Originalitätsverlust immer mehr Gewicht auf ei-
nen durch unverwechselbares individuelles Erleben legitimierten Intellekt. Erst
dadurch gewinnt der Intellektuelle Lebendigkeit, Wirkungskraft und Originali-
tät. Deshalb spricht N. auch von der „Leidenschaft der Erkenntnis" und betont
er die ,Persönlichkeit'. Zur bewussten darstellerischen Strategie eines ,persönli-
chen' Schreibens vgl. NK M 480.
459
276, 15 Die Grossmüthigkeit des Denkers.] Der im ersten Satz auf
Rousseau und Schopenhauer bezogene Wahlspruch „vitam impendere vero"
(„sein Leben der Wahrheit weihen") stammt von dem römischen Dichter Juve-
nal, Satiren I, 4, 91. Schopenhauer stellte ihn dem zweiten Band seiner Parerga
und Paralipomena voran. Rousseau hatte den Wahlspruch bereits in seine Let-
tre ä d'Alembert übernommen (Jean-Jacques Rousseau, Edition de la Pleiade,
Bd. 5, 120, Anm.). Mit der Umkehrung des Juvenal-Zitats zu der Form: „verum
impendere vitae" (276, 19 f.) - „die Wahrheit dem Leben weihen" beginnt N.
die folgenden Reflexionen über das Verhältnis von theoretischer „Erkenntniss"
und Lebenspraxis. Ein bekanntes Beispiel für diese Diskrepanz ist Rousseau:
 
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