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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0453
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438 Morgenröthe

der traditionellen Vorstellung des Seher-Dichters, des poeta vates, ausgehen-
des Ideal von „Zukunft", das er nicht nach Art bisheriger Zukunftsentwürfe als
Sozialutopie, sondern - in Widerspruch zu Μ 548 - nach dem Maß des großen
und „schönen" Individuums verstanden wissen möchte: „So viel noch über-
schüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, wel-
che bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne
jeden Abzug, Einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegen-
wärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern
dem Wegweisen für die Zukunft: - und diess nicht in dem Verstände, als ob
der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks-
und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen
sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdich-
teten, so an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle aus-
wittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne
jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne grosse See-
le noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäs-
sige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vor-
bildlichkeit bekommt und also durch Erregung von Nachahmung und Neid die
Zukunft schaffen hilft" (KSA 2, 419, 8-27).

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322, 8 Die idealische Selbstsucht.] Dieser Text steht in einem inneren
Zusammenhang mit dem vorausgehenden. Denn wie dieser ganz von der Vor-
stellung einer Dichtung beherrscht ist, die noch von der Zukunft, „von dem
Möglichen erzählen" kann (321, 30), so ist hier die „Schwangerschaft" be-
stimmt von dem Gefühl: „Es ist etwas Grösseres, das hier wächst, als wir sind"
(322, 26 f.), und von „Ehrfurcht vor dem Werdenden" (323, 14). Während N.
später, so schon im Zarathustra, einem entschiedenen, bis zur Selbstüberspan-
nung gehenden Voluntarismus Ausdruck gibt und immer wieder ein gewaltsam
zukunftgerichtetes „Wollen" bis hin zur Vision des Übermenschen propagiert,
suspendiert er hier noch das „Wollen" und das „Schaffen" im Hinblick auf
das naturhaft-organische Wachsen und Werden einer „Schwangerschaft", die
metaphorisch auch geistig-seelische Prozesse meint. Wir sollten, so formuliert
er, „das anmaassliche Reden von ,Wollen' und ,Schaffen' in den Wind blasen!"
(323, 2 f.). Dabei spielen auch psychotherapeutische Elemente herein, wie sie
ihm von seiner Beschäftigung mit Epikur und mit stoischen Leitvorstellungen
her vertraut waren. Insbesondere denkt er an das Ideal der Seelenruhe, der
„tranquillitas animi", wenn er dazu auffordert, „die Seele still zu halten" (323,
 
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