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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0455
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440 Morgenröthe

Untergeordnete und Bedingte erweist" (WWV II, Schopenhauer 1873, Bd. 3,
222). Daher nennt Schopenhauer, wie dann auch N. im ersten Satz des zitierten
Nachlass-Notats, den „Intellekt hingegen ein Sekundäres, Hinzugekommenes,
ja ein bloßes Werkzeug [!] zum Dienste des Ersteren" (S. 229). In FW 99 zählt
N. zu den „unsterblichen Lehren" Schopenhauers auch diejenige „von der
Werkzeug-Natur des Intellects" (KSA 3, 454, 5). Ausführlicher hierzu ΝΚ M 539.

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324, 13 Vorschritt.] Indem N. Fortschritt wesentlich als eine „Bewegung"
um ihrer selbst willen versteht, nicht als zielgerichtetes Unternehmen, schließt
er an 31, 8 und 31, 32 (vgl. NK M 18) an, nun aber unter einem neuen Aspekt.
Er sieht in den „Vorschreitenden" diejenigen, „welche sich selber immer wieder
zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nach-
kommt" (324, 20-22). Dies entspricht der individualistischen Grundtendenz
N.s, wie sie besonders in M 9, in M 107 und M 108 zum Ausdruck kommt. Im
näheren Umfeld dieses Textes zeigt sich eine Verbindung zu M 573: „Sich
häuten. - Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zu Grunde.
Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie
hören auf, Geist zu sein" (330, 24-26). Es handelt sich auch um einen Vorklang
der im abschließenden Text M 575: „Wir Luft-Schifffahrer des Geis-
tes" entworfenen Vorstellung einer geradezu ins Unendliche gehenden Bewe-
gung - in eine leere Unendlichkeit, „wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist" (331,
22 f.). Dieser Metapher des Meeres entspricht hier diejenige der Wüste: „Die
Wüste ist noch gross!" (324, 24) Auch deutet die Vorstellung von „Vorschreiten-
den", die „sich selber immer wieder zurücklassen", schon auf die Konzeption
des Übermenschen voraus, der nie „Halt" macht, sondern sich in einem unend-
lichen Prozess der Selbstübersteigung fortbewegt.

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324, 27 Die geringsten genügen schon.] Der Satz „Der Denker muss
einen ungefähren Kanon aller Dinge in sich haben, welche er überhaupt noch
erleben will" greift den in einer ganzen Reihe von Texten der Morgenröthe
schon formulierten Anspruch auf, der Denker müsse seine Gedanken durch
eigenes Erleben legitimieren (vgl. NK M 480). Damit hängt auch das Konzept
einer „Experimentalphilosophie" zusammen, dem zufolge der Mensch mit sich
selbst experimentieren soll. Vgl. Μ 453 und den ausführlichen Kommentar.
 
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