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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0459
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444 Morgenröthe

Damit konnte Schopenhauer trotz seiner Bestreitung der Willensfreiheit als
Handlungsfreiheit doch an einem letzten Freiheitsgrund aller Handlungen fest-
halten. Seine Formel dafür lautet: Die Freiheit liegt nicht im operari (Handeln),
sondern im esse (Sein). Bereits Kants Moralphilosophie geht von diesem intelli-
giblen Prinzip der Freiheit bei durchgängiger Notwendigkeit aller Handlungen
in der Erscheinung aus (Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe V,
94-98). Und auch schon Schelling hatte in seinen von Schopenhauer rezipier-
ten Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 eine
solche Theorie intelligibler Freiheit aufgestellt, die mit der Annahme eines aus
einem fixierten unveränderlichen Charakters resultierenden Determinismus
bestehen könne. Zu den „grossen Philosophen", die an die „Unveränderlich-
keit des Charakters" glaubten, gehört des Weiteren N.s Lieblingsphilosoph He-
raklit, der zwar einerseits die permanente Veränderlichkeit von allem statuierte
(„alles ist im Fluss", πάντα ρεϊ), andererseits aber die schicksalshaft, ,dämo-
nisch' fortwirkende angeborene Wesensart des Menschen mit dem Spruch zum
Ausdruck brachte: ήθος άνθρώπω δαίμων - „die angeborene Wesensart [der
,Charakter'] ist dem Menschen ein Daimon". An diesen Spruch Heraklits
schließt Goethe mit dem - auch von Schopenhauer in seiner schon genannten
Preisschrift zitierten - Anfang seines Altersgedichts Urworte. Orphisch an:
ΔΑΙΜΩΝ, Dämon
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz wonach du angetreten.
So mußt du seyn, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form die lebend sich entwickelt.
Doch hat Goethe durch die folgenden Strophen seines Gedichts die charakterli-
che Prägung und Bestimmung durch den „Dämon" in einer Konstellation mit
anderen Daseinskräften relativiert, die weit über die binäre Reduktion auf die
Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit hinausreicht.
Einen ganz anderen Ansatz wählte hingegen Aristoteles am Beginn des
zweiten Buchs seiner Nikomachischen Ethik. Er versteht dort den Charakter des
Menschen nicht als angeborene Wesensart, sondern als Resultat der Sozialisa-
tion, in Aristoteles' Worten: als ein „Ergebnis der Gewöhnung" (ή δ'ήθική έξ
έθους περιγίνεταΐ; Nikomachische Ethik 1103 a 17). Deshalb leitet er den Begriff
ήθος (Charakter) von dem des έθος („Gewohnheit") her. ethos, Charakter, ist
 
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