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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0462
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 327-328 447

diesem subjektiven moralischen Gefühl setzte sich N.s Freund Paul Ree ansatz-
weise in seiner Schrift Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877) und
dann umfassend in seiner Schrift Die Entstehung des Gewissens (1885) ausei-
nander, die zwar erst nach Erscheinen der Morgenröthe (1881) publiziert wurde,
deren Konzeption aber N. bereits während seiner Arbeit an der Morgenröthe
bekannt war.
Die abschließende Feststellung „Nicht die Dinge, sondern die Meinun-
gen über Dinge, die es gar nicht giebt, haben die Menschen so ver-
stört!" geht auf einen Ausspruch des Stoikers Epiktet zurück. N. kannte diesen
Ausspruch schon aus Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit (PP I,
Schopenhauer 1874, Bd. 5, 344): „Nicht was die Dinge objektiv und wirklich
sind, sondern was sie für uns, in unsrer Auffassung, sind, macht uns glücklich
oder unglücklich: Dies eben besagt Epiktets [Schopenhauer zitiert ohne Akzen-
te] ταράσσει τους ανθρώπους ου τα πραγματα, αλλα τα περί των πραγμάτων
δογματα (commovent homines non res, sed de rebus opiniones)". Der Begriff
der (bloßen) „Meinung", die bei N. einem leeren „Wahn" (hier: der Vorstellung
von einer sittlichen Weltordnung) gleichkommt, ist schon für Epikur wichtig.
Dieser verwendet dafür die Bezeichnung δόξα. Epikur und in dessen Nachfolge
noch entschiedener Lukrez in seinem Lehrgedicht Von der Natur der Dinge (De
rerum natura) wenden sich gegen die wahnhaften Vorstellungen, denen zufol-
ge Götter und Dämonen in das Weltgeschehen sowie in das Menschenleben
eingreifen und dadurch Furcht erzeugen, gegen Vorstellungen, die überdies
die Menschen an einer selbstbestimmten Lebenshaltung hindern. Im Lehrbrief
an seinen Schüler Menoikeus, den N. aus dem Werk des Diogenes Laertius
kannte, empfiehlt Epikur als höchstes Gut die „Einsicht" (φρόνησις), weil sie
„die leeren Meinungen austreibt, aus denen die schlimmste Verwirrung der
Seele entsteht" (τάς δόξας έξελαύνων, έξ ών πλεϊστος τάς ψυχάς καταλαμβάνει
θόρυβος). Lukrez, der sich emphatisch zu Epikur bekennt, verschärft dessen
aufklärerische Grundtendenz zu einer entschieden antireligiösen Programma-
tik. Epikur will mit seinen oft therapeutisch angelegten Lehrgesprächen (Diatri-
ben) und auch mit seinen Lehrbriefen die Adressaten von Beunruhigungen,
insbesondere von Furcht kurieren; ähnlich wie die Stoiker hat er das Ideal ei-
nes in sich ruhenden, autarken Daseins vor Augen. Deshalb preist auch er die
Selbstgenügsamkeit (αύτάρκεια), aber er macht sich nicht die prinzipielle Af-
fektfeindschaft und die asketische Härte der stoischen Schule zu eigen. Er plä-
diert für einen von der Vernunft bestimmten, auf Vermeidung von schmerzli-
chen Erfahrungen angelegten und von maßvoller „Lust" (ήδονή) erfüllten Le-
bensstil, der sich am besten in privater Zurückgezogenheit mit gleichgesinnten
Freunden verwirklichen lässt. Nur diese Lebensform gewähre Glück (εύδαι-
μονία). Zu Epikur und Lukrez vgl. auch M 150, 142, 21-23 und den Kommentar.
 
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