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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0486
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Überblickskommentar 471

enthält, nämlich für FW, trifft diese Beschreibung durchaus etwas Richtiges. In
Bezug auf den Titel der ganzen Schrift erläutert N. selbst in der Vorrede, die
der Neuausgabe von 1887 beigegeben wurde, die Funktion der „Handvoll Lie-
der, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind" - gemeint sind die Lieder
des Prinzen Vogelfrei -, „als etwas Thorheit, Ausgelassenheit, ,fröhliche Wis-
senschaft"' (KSA 3, 346, 20-22). Und schon in der Erstausgabe heißt es im letz-
ten Aphorismus (FW 107) des Zweiten Buchs, das zu einem wesentlichen Teil
der Problematik der Kunst gewidmet ist, unter der Überschrift „Unsere letz-
te Dankbarkeit gegen die Kunst": „wir müssen unsrer Thorheit ab und
zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil
wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen [...] sind, so thut uns
Nichts so gut als die Schelmenkappe: wir brauchen sie vor uns selber -
wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische
und selige Kunst" (KSA 3, 464, 32-465, 6), womit N. hier vor allem seine eigene
lyrische Dichtung vor Augen hat. Indes geht das Gemeinte weit über eine bloß
stilistische Auflockerung oder Entspannung hinaus, bekennt N. sich hiermit
doch zur Notwendigkeit des ästhetischen Scheins als Gegenwicht einer auf
schonungslose Desillusionierung ausgerichteten ,strengen Wissenschaft', die
ohne jenes Korrektiv selbstzerstörerische Konsequenzen nach sich zöge.
Zugleich handelt es sich bei dem Verhältnis von lyrischer Poesie und philo-
sophischer Prosa für N. gleichwohl auch um eine Stilfrage. So formuliert er in
FW 92 unter der Überschrift „Prosa und Poesie" folgende Beobachtung,
die - obzwar vordergründig auf andere Autoren wie Goethe, Leopardi, Meri-
mee, Emerson und Landor gemünzt - letztlich selbstreflexiv gemeint ist: „Man
beachte doch, dass die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter ge-
wesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Geheimen und für das ,Kämmer-
lein'; und fürwahr, man schreibt nur im Angesichte der Poesie gute
Prosa!" (KSA 3, 447, 19-23) Schon durch die Gegenüberstellung von Prosa und
Poesie bzw. Dichtung wird deutlich, dass N. hier im bis zum 19. Jahrhundert
geläufigen Sinn unter Poesie/Dichtung nicht, wie erst später üblich, die ,schö-
ne Literatur' in allen drei Gattungen (Epik, Drama, Lyrik), sondern noch aus-
schließlich die - lange als die höchste geltende - poetische Gattung der Lyrik
versteht (zu dieser poetologischen Tradition vgl. Kaufmann 2011, 476-478). Die
These lautet also, dass nur Autoren, die sich auch als Lyriker betätigen, eine
,geschliffene' Prosa zu schreiben verstehen. Ein solches an der Lyrik orientier-
tes Stilideal, das N. hier für seine wie für alle Prosa aufstellt, impliziert mithin
ebenfalls auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung - neben derjenigen der
inhaltlichen Komplementarität von literarischem Scherz und philosophischem
Ernst - eine notwendige Zusammengehörigkeit, ja wechselseitige Durchdrin-
gung von Dichten und Denken, auch wenn diese andererseits in einem spezifi-
 
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