Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0492
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 477

analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich." (KSA 1,
49, 14-21) Diese auf der Assoziation, ja Identifikation von Lyrik und Musik ba-
sierende Fokussierung auf das - vermeintliche - Volkslied, zeigt sich auch in
N.s eigener früher Lyrik, die zu einem großen Teil den sogenannten Volkston
ungebrochen imitiert (parodistische Adaptionen finden sich erst später, so
auch in IM).
Obgleich N. seine willensmetaphysisch grundierte Poetologie des Volks-
lieds recht bald aufgab, hielt er doch fortan an seiner Grundthese einer engen
Verbindung von Lyrik und Musik fest; noch die späte Hinwendung zur Praxis
dithyrambischen Dichtens in DD ist in diesem Kontext zu sehen, auch wenn
es sicherlich zu weit geht zu sagen, N. ziehe damit die dichtungspraktische
„Konsequenz aus der in Die Geburt der Tragödie formulierten Dichtungstheo-
rie" (Nebrig 2010, 238). Jedenfalls bleibt für N. weit über GT hinaus die Ansicht
leitend, dass die poetische Gattung der Musik eng verwandt ist. Zwar formuliert
er nirgends mehr eine zusammenhängende, ausführlichere Lyriktheorie, son-
dern äußert sich nur sporadisch zu lyriktheoretischen Fragen. Gleichwohl
kommt er immer wieder, allerdings unter veränderten Vorzeichen, auf den As-
pekt der Musikalität zurück, etwa in FW 84, wo er unter der Überschrift „Vom
Ursprunge der Poesie" auf die bezwingende Wirkung von „Rhythmus"
(KSA 3, 440, 22), „Tact[]" (KSA 3, 440, 25) und „Melos" (KSA 3, 441, 13) abhebt,
oder in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 11, wo es heißt: „Der Lyriker blieb
am längsten mit dem Musiker geeint" (KSA 6, 118, 23 f.). Selbst im Hinblick auf
die Lyrik Heines, der beim späten N. die (freilich gewandelte) Vorbild-Rolle
einnimmt, die beim frühen der ,Urlyriker' Archilochos innehatte, lobt er in EH
Warum ich so klug bin 4 nicht nur und nicht zuerst „jene göttliche Bosheit,
ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag", sondern zuvör-
derst die unvergleichliche Musikalität: „Den höchsten Begriff vom Lyriker hat
mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahr-
tausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik." (KSA 6, 286,
14-16) Wie weit dabei die Identifikation N.s mit dem musikalischen Lyriker
Heine reicht, verrät die anschließende Prophezeiung: „Man wird einmal sagen,
dass Heine und ich bei weitem die ersten [d. h. erstrangigen] Artisten der deut-
schen Sprache gewesen sind" (KSA 6, 286, 21-23).
Musikalität, Boshaftigkeit, Sprachartistik - mit dieser kategorialen Trias
charakterisiert N. mithin nicht nur Heine, sondern genauso sehr sich selbst,
auch und gerade als Lyriker. In gewisser Weise entspricht dieses dreidimensio-
nale Lyrik- bzw. Selbstverständnis den drei Gedichtformen, in denen sich der
Lyriker N. vor allem hervorgetan hat: „Lied, Spruch und Hymnus" (Meyer 1991,
386). Dabei kann man mit aller gebotenen Vorsicht gegenüber vorschnellen
Generalisierungen von einer Entwicklung seiner Lyrik sprechen, die mit einem
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften