Überblickskommentar 485
versteht die Idylle nicht so sehr im gattungspoetologischen Sinn, sondern ge-
nerell als eine dichterische „Empfindungsweise", die neben derjenigen der Sa-
tire und der Elegie eine Form der sentimentalischen Dichtung ausmachen
kann. Im Gegensatz zum naiven Dichter, der selbst unreflektierte Natur ist,
sucht der komplementäre Gegentypus des sentimentalischen Dichters nur mit-
tels der Reflexion die verlorene Natur. Der kruden Wirklichkeit stellt er das
schöne Ideal entgegen.
Dem idyllisch-sentimentalischen Dichter weist Schiller dabei die Aufgabe
zu, das Ideal des in sich ruhenden Lebens, der harmonischen Einheit mit sich
selbst, nicht - wie andere Idylliker des 18. Jahrhunderts - durch die imaginati-
ve Regression in vorzivilisatorische Schäferwelten, sondern durch einen ver-
klärenden Entwurf der eigenen Zukunft zu gestalten. So bezeichnet Schiller
zwar das literarische „Gemälde [...], welches die Hirten-Idylle behandelt", als
eine „schöne, eine erhebende Fiction [...]. Aber ein Umstand findet sich dabei,
der den ästhetischen Werth solcher Dichtungen um sehr viel vermindert. Vor
dem Anfang der Cultur gepflanzt schließen sie mit den Nachtheilen zu-
gleich alle Vortheile derselben aus, und befinden sich ihrem Wesen nach in
einem nothwendigen Streit mit derselben. [...] Sie stellen unglücklicher Weise
das Ziel hinter uns, dem sie uns doch entgegen führen sollten, und
können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche
der Hoffnung, einflößen." (Schiller 1838, 237 f.) Und so formuliert Schiller statt-
dessen die Arbeitsanweisung für den Idylliker: „Er mache sich die Aufgabe
einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjecten der Cultur und un-
ter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten
Denkens, der raffinirtesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeine-
rung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht
mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elysium führt." (Schiller
1838, 242) Dieser Forderung entsprechen in gewisser Weise jene ,bürgerlichen'
Idyllen um 1800, die im Stil der homerischen Epen, also im Versmaß des Hexa-
meters, moderne idyllische Lebensverhältnisse im kleinstädtischen Bereich
darstellen, wie etwa Johann Heinrich Voß mit seiner - von Schiller hochgelob-
ten - Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen (1795) oder Goethe mit seinem
Versepos Hermann und Dorothea (1797).
N.s eigene poetologische Reflexionen auf die Idylle, die wie gesagt an
Schiller anknüpfen, reichen bis ins Frühwerk Anfang der 1870er Jahre zurück
und stehen dort in Verbindung mit seinen Überlegungen zur Musikdramatik
Richard Wagners, auf den hin er auch seine Erstlingsschrift Die Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) konzipierte. Bis ins Spätwerk Ende
der 1880er Jahre kommt N. aber, wenn auch unter veränderten Vorzeichen,
immer wieder auf den Begriff der Idylle zu sprechen. In der Geburt der Tragödie
versteht die Idylle nicht so sehr im gattungspoetologischen Sinn, sondern ge-
nerell als eine dichterische „Empfindungsweise", die neben derjenigen der Sa-
tire und der Elegie eine Form der sentimentalischen Dichtung ausmachen
kann. Im Gegensatz zum naiven Dichter, der selbst unreflektierte Natur ist,
sucht der komplementäre Gegentypus des sentimentalischen Dichters nur mit-
tels der Reflexion die verlorene Natur. Der kruden Wirklichkeit stellt er das
schöne Ideal entgegen.
Dem idyllisch-sentimentalischen Dichter weist Schiller dabei die Aufgabe
zu, das Ideal des in sich ruhenden Lebens, der harmonischen Einheit mit sich
selbst, nicht - wie andere Idylliker des 18. Jahrhunderts - durch die imaginati-
ve Regression in vorzivilisatorische Schäferwelten, sondern durch einen ver-
klärenden Entwurf der eigenen Zukunft zu gestalten. So bezeichnet Schiller
zwar das literarische „Gemälde [...], welches die Hirten-Idylle behandelt", als
eine „schöne, eine erhebende Fiction [...]. Aber ein Umstand findet sich dabei,
der den ästhetischen Werth solcher Dichtungen um sehr viel vermindert. Vor
dem Anfang der Cultur gepflanzt schließen sie mit den Nachtheilen zu-
gleich alle Vortheile derselben aus, und befinden sich ihrem Wesen nach in
einem nothwendigen Streit mit derselben. [...] Sie stellen unglücklicher Weise
das Ziel hinter uns, dem sie uns doch entgegen führen sollten, und
können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche
der Hoffnung, einflößen." (Schiller 1838, 237 f.) Und so formuliert Schiller statt-
dessen die Arbeitsanweisung für den Idylliker: „Er mache sich die Aufgabe
einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjecten der Cultur und un-
ter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten
Denkens, der raffinirtesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeine-
rung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht
mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elysium führt." (Schiller
1838, 242) Dieser Forderung entsprechen in gewisser Weise jene ,bürgerlichen'
Idyllen um 1800, die im Stil der homerischen Epen, also im Versmaß des Hexa-
meters, moderne idyllische Lebensverhältnisse im kleinstädtischen Bereich
darstellen, wie etwa Johann Heinrich Voß mit seiner - von Schiller hochgelob-
ten - Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen (1795) oder Goethe mit seinem
Versepos Hermann und Dorothea (1797).
N.s eigene poetologische Reflexionen auf die Idylle, die wie gesagt an
Schiller anknüpfen, reichen bis ins Frühwerk Anfang der 1870er Jahre zurück
und stehen dort in Verbindung mit seinen Überlegungen zur Musikdramatik
Richard Wagners, auf den hin er auch seine Erstlingsschrift Die Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) konzipierte. Bis ins Spätwerk Ende
der 1880er Jahre kommt N. aber, wenn auch unter veränderten Vorzeichen,
immer wieder auf den Begriff der Idylle zu sprechen. In der Geburt der Tragödie