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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0515
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II Stellenl<ommentar
Prinz Vogelfrei.
Der „Prinz Vogelfrei" fungiert als Rollenbezeichnung eines auf N. selbst hin-
deutenden lyrischen Ichs, das sich einer entgrenzenden Flugphantasie und der
Vorstellung eines vogelgleichen Lebens in luftigen Höhen hingibt - wie auch
schon im letzten Aphorismus der Morgenröthe „Wir Luft-Schifffahrer
des Geistes!" und in zahlreichen anderen Flugphantasien N.s. Die hiermit
verbundene heroische Freiheit als Befreiung von der ,Erdenschwere' erscheint
zugleich als Metapher für eine Befreiung vom rationalen Denken („Vernunft")
zugunsten eines ungebundenen Dichtens, das mit „Scherz" und ,Spiel' assozi-
iert wird. Zugleich ist Ziel- und Zweckfreiheit gemeint, aber auch Ort- und Hei-
matlosigkeit, die allerdings bemerkenswerterweise nicht zu sozialer Isolation
führt, geht mit ihr doch in der letzten Strophe die programmatische Abkehr
von der notwendigen - sonst oft affirmativ von N. betonten - Einsamkeit des
Denkers einher, an deren Stelle hier die Idee einer ,geselligen Poesie' tritt. Als
tertium comparationis zwischen Vogel- und Dichterexistenz gilt das ,Singen',
das solche Geselligkeit fordere. Da aber das lyrische Ich die ,Weisheit' der den-
kerischen Einsamkeit nicht per se in Frage stellt, sondern nur die ,Dummheit'
der dichterischen Einsamkeit hervorhebt, liegt eine - nicht zuletzt mit N.s Bio-
graphie kompatible - Deutung nahe, wonach die Abwendung von der schwe-
ren, einsamen Philosophie und die Hinwendung zur leichten, geselligen Poesie
als eine bloß vorübergehende Phase, gleichsam als Erholungspause zu verste-
hen wäre. Für eine endgültige Verabschiedung des Denkens, wie sie der sich
in der Rolle des „Prinzen Vogelfrei" spiegelnde N. ja auch nie vollzogen hat,
gibt es im Gedichttext jedenfalls keinen Anhaltspunkt. Der im Gedicht zum
Ausdruck kommende Entschluss zur vorübergehenden Befreiung vom Denken
zugunsten des Dichtens korrespondiert dem ,Intermezzo'-Charakter von IM
zwischen Morgenröthe und Fröhlicher Wissenschaft.
N. bedient sich hier einer fünfzeiligen Strophenform aus jambischen Vier-
hebern, die durch Verdopplung des vorletzten Verses aus der geläufigen, als
volkstümlich geltenden jambischen Vierheberstrophe mit weiblich/männlich
wechselnden Kadenzen entstanden sein dürfte, wie sie etwa Eichendorff in sei-
nem bekannten Gedicht Der frohe Wandersmann („Wem Gott will rechte Gunst
erweisen ...") benutzt. Beliebt war diese - was im Hinblick auf den idyllischen'
Kontext bemerkenswert erscheint - allerdings bereits als sog. Schäferliedstro-
phe im Barock und in der Anakreontik (vgl. Frank 1980, 398 f.).
335, 1 Prinz Vogelfrei.] Der Ausdruck „vogelfrei" ist durchaus doppeldeu-
tig zu verstehen: Zum einen meint N. ihn, wie auch aus dem Inhalt des Ge-
 
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