Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0527
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
512 Idyllen aus Messina

Abgesehen von dieser Marien-Assoziation, auf deren sakralen Horizont
sich der Schiffs- und Mädchenname „Engelchen"/Angelina beziehen ließe, fin-
det sich bei N. eine ganz ähnliche metaphorische Verbindung zwischen Schiff
und Weiblichkeit auch in der ungefähr zeitgleich entstandenen Fröhlichen Wis-
senschaft: Dort wird unter dem Titel „Die Frauen und ihre Wirkung
in die Ferne" zunächst die zauberische „Schönheit" eines auf dem Meer
dahergleitenden „grosse[n] Segelschiff[s]" evoziert, um dieses Bild anschlie-
ßend auf „die Frauen" zu beziehen, nach „deren Glück und Zurückgezogen-
heit" der kühne männliche Denker „inmitten seiner Brandung von Würfen und
Entwürfen" sich zuweilen sehnen mag (FW 60, KSA 3, 424, 15-31). Allerdings
zerstört N. dieses Sehnsuchtsbild abschließend durch eine misogyne Reflexion,
indem er sich selbst zuruft: „Jedoch! Mein edler Schwärmer, es giebt auch auf
dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm und leider so viel klei-
nen erbärmlichen Lärm!" (FW 60, KSA 3, 425, 2-4)
In seinen Überlegungen zur symbolischen Bedeutung des Schiffs als
Traummotiv gelangt später, in seinen zwischen 1915 und 1917 gehaltenen Vorle-
sungen zur Einführung in die Psychoanalyse, auch der N.-Leser Sigmund Freud
zu einer Verknüpfung von Frau und Schiff, wobei er sich auf die Etymologie
von ,Schiff beruft: „Daß auch die Schiffe des Traumes Weiber bedeuten, ma-
chen uns die Etymologen glaubwürdig, die behaupten, Schiff sei ursprünglich
der Name eines tönernen Gefäßes gewesen und sei dasselbe Wort wie Schaff."
(Freud 2000, 171)
336, 9-11 Ach, noch immer sehr ein Mädchen! / Denn es dreht um Liebe sich I
Stäts mein feines Steuerrädchen.] Die mit der Konjunktion „Denn" eingeleitete
Begründung für die ,Mädchenhaftigkeit' des Schiffs ergibt sich daraus, dass
sich die „Liebe" als alles bestimmende, ,steuernde' Macht seiner Existenz er-
weist. Nimmt man das Adventslied Es kommt ein Schiff geladen als Subtext an,
so ergibt sich eine Parallele zu dessen zweiter Strophe, in der es heißt: „das
Segel ist die Liebe" (vgl. Müller 1995, 79). Allerdings säkularisiert N. diese Vor-
stellung, indem er nicht die christliche caritas oder agape, sondern den ge-
schlechtlichen eros/amor assoziiert (zum Spannungsverhältnis dieser Liebes-
konzepte vgl. auch das Gedicht „Pia, caritatevole, amorosissima" und den Kom-
mentar hierzu).
Den Hintergrund für diese als wesentlich vorausgesetzte Zusammengehö-
rigkeit von „Mädchen" und (sexueller) „Liebe" bilden N.s Ansichten über das
„Weib", die er in seinen Werken immer wieder artikuliert. Dabei hebt er mit
Vorliebe auf die These ab, dass die weibliche Liebe in der bedingungslosen
Hingabe an den Mann bestehe und dass dies geradezu das ,Wesen des Weibes'
ausmache. Aus der Zeit kurz nach der Entstehung von IM stammt ein nachge-
lassenes Notat, in dem N. dementsprechend formuliert: „Für das Weib giebt es
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften