Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0548
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Vogel Albatross, KSA 3, S. 341 533

daraufhin seinen Wunsch und beseelte die Statue, so dass diese lebendig wur-
de, als Pygmalion sie umfing.
341, 17 f. Du schwiegst - und starbst vor Sehnen I Amorosissima?] Hier
wird in Form einer rhetorischen Frage die abschließende Vermutung geäußert,
die junge Frau sei an unausgesprochener Liebessehnsucht gestorben. Umge-
kehrt folgt daraus ebenso wie aus der vorangehenden Gewissheit, ihre Liebe
wäre erwidert worden, dass sie ihre Sehnsucht nur hätte aussprechen müssen,
um vor dem tragischen Schicksal bewahrt zu werden. Die sich letztlich erge-
bende Frage, weshalb sie denn überhaupt ihr Liebesverlangen verschwiegen
hat, beantwortet das lyrische Ich implizit durch den Hinweis auf ihre Frömmig-
keit, die im Gegensatz zu derjenigen der Titelfigur aus Die kleine Hexe nicht
geheuchelt erscheint. Insofern steckt auch im vorliegenden Gedicht eine laten-
te Kritik an der Kirche bzw. an der religiösen Moral - aber auf ganz andere
Weise als in jenem satirischen Text: Nunmehr werden die ruinösen Konsequen-
zen einer religiös motivierten Unterdrückung des erotischen Verlangens gestal-
tet, das in dem Wort „amorosissima" zum Ausdruck kommt.
Vogel Albatross.
Im vorletzten Gedicht nimmt N. erneut das poetologisch grundierte Vogel-Mo-
tiv auf, das bereits im Eingangsgedicht zentral war. Auch wenn nun - anders
als dann wieder im Schlussgedicht - die Dichtungsthematik nicht explizit for-
muliert wird, sind die poetologischen Implikationen doch deutlich zu erken-
nen: Der geschilderte Höhenflug des Vogels Albatros, den das lyrische Ich pa-
thetisch apostrophiert, fungiert nicht zuletzt als Reflexionsbild für die ersehnte
Inspiration, den dichterischen Aufschwung des Sprechers. Diese dichtungs-
theoretische Valenz markiert N. ausdrücklich erst in der späteren Fassung des
Textes, in der er sich 1887 in den Liedern des Prinzen Vogelfrei wieder findet.
Dieser - um die zweite Strophe gekürzten Fassung - gab N. den neuen Titel
Liebeserklärung und den poetologisch-selbstironischen Untertitel (bei der aber
der Dichter in eine Grube fiel -). Mit dieser Anspielung auf die in Platons Dialog
Theaitetos überlieferte Anekdote über den Philosophen Thales, der beim Be-
obachten der Sterne in einen Brunnen gefallen und daraufhin von einer thraki-
schen Magd ausgelacht worden sei, distanziert sich N. später vom Inhalt des
Gedichts, das in der früheren Idyllen-Fassung noch ohne jedes Ironiesignal
auskommt und so die Dreierreihe der mit Das nächtliche Geheimniss beginnen-
den pathetisch-melancholischen Texte zum Abschluss bringt: Wenn dem lyri-
schen Ich angesichts seines Abstands zu dem in höchster Höhe frei schweben-
den Albatros am Ende des Gedichts „Thrän' um Thräne" fließt (342, 8), so er-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften