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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0555
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540 Idyllen aus Messina

Eingangsgedicht, explizit mit einer poetologischen Selbstreflexion des lyri-
schen Ichs. Dementsprechend änderte N. den Titel des in erheblich erweiterter
Form (vier weitere Strophen kamen hinzu) in die Lieder des Prinzen Vogelfrei
übernommenen Gedichts später zu Dichters Berufung. Als Schlussgedicht von
IM sorgt der Text - nach den vorangehenden drei ,ernsten' Gedichten - für
einen ,heiteren' Ausklang. Auch insofern kann man von einem Wiederaufgrei-
fen des Anfangs am Ende des Zyklus sprechen. Der ironische Ton gilt nun dem
lyrischen Dichter-Ich selbst, womit ein gewisser Vorbehalt gegenüber der Dich-
tung insgesamt zum Ausdruck kommt. Wenn N. in der Vorrede zur zweiten
Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887 über „die Handvoll Lieder, wel-
che dem Buche dies Mal beigegeben sind", schreibt, es handle sich dabei um
„Lieder, in denen sich ein Dichter auf eine schwer verzeihliche Weise über alle
Dichter lustig macht" (FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 21-24), dann trifft dies vor
allem Dichters Berufung und mithin bereits auf dessen Erstfassung: das
Schlussgedicht der Idyllen zu.
Das aus zwei verdoppelten Romanzenstrophen, genauer: sog. Suleikastro-
phen (vierhebige, durch Kreuzreime verbundene Trochäen mit alternierenden
weiblichen und männlichen Kadenzen) bestehende Gedicht wurde von Gilman
1976, 89, „as a partial answer" auf Edgar Allan Poes berühmtes Langgedicht
The Raven (1845) gedeutet, das zu N.s Zeit auch im deutschsprachigen Raum
bereits weithin bekannt war. Angesichts der in Poes Text immer wieder am
Strophenende wiederholten Antwort des Raben „Nevermore" ließe sich aller-
dings eher die spätere, erweiterte Fassung Dichters Berufung als Parodie auf
The Raven verstehen, da erst in jener die (leicht abgeänderten) Schlussverse
der zweiten Strophe „- ,Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter' / Achselzuckt der
Vogel Specht" (FW Anhang, KSA 3, 640 f.) am Ende aller (neu hinzugekomme-
nen) vier weiteren Strophen wiederholt werden. N. erwähnt Poe zum ersten
Mal im Brief an Franz Overbeck vom 14. 11. 1879 (vgl. KSB 5/KGB II/5, Nr. 904,
S. 464, Z. 19) und nennt ihn in JGB 269 einen „grossen Dichter" (KSA 5, 224,
8). Für seine persönliche Bibliothek hatte N. eine dreibändige Poe-Ausgabe in
deutscher Übersetzung erworben, die mehrere Lesespuren aufweist: Edgar Al-
lan Poe: Ausgewählte Werke. Aus dem Englischen von Wm. E. Drugulin (1853-
1854).
342, 9 Vogel-Urtheil.] Der Titel bezieht sich auf die beiden letzten, pointie-
renden Verse des Gedichts. Der Vogel ist „der Vogel Specht" (342, 25), sein
Urteil über das lyrische Ich lautet: „Sie sind ein Dichter!" (342, 24). Dem Specht
wird dabei auf ironische Weise eine besondere Urteilskraft zugeschrieben, da
er selbst im ,metrischen' Takt klopft. Außerdem galten Spechte in der Antike,
was dem Altphilologen N. bekannt gewesen sein dürfte, als prophetisch-wahr-
sagende Vögel (vgl. NK 342, 25). Im Rahmen der dichtungskritischen Grund-
 
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