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I Überblickskommentar
1 Textentstehung und Druckgeschichte
„Die ,Genealogie', zwischen dem 10. und 30. Juli 1887 beschlossen, durchge-
führt und druckfertig an die Leipziger Druckerei geschickt." So resümiert N.
die Entstehungsgeschichte seiner „Streitschrift" Zur Genealogie der Moral (GM)
in seiner biobliographischen Selbstdarstellung, die er dem dänischen Gelehr-
ten Georg Brandes im Brief vom 10. 04. 1888 übermittelte (KSB 8/KGB III 5,
Nr. 1014, S. 287, Z. 43-45). Den Winter 1886/87 hatte N. in Nizza verbracht, von
wo aus er im April 1887 nach Cannobio am Lago Maggiore fuhr, um dort die
Zweitausgabe der Fröhlichen Wissenschaft (FW) mit dem neuen Fünften Buch
weiter vorzubereiten. Ende April ging es nach Zürich und dann Anfang Mai
nach Chur, wo er die örtliche Bibliothek intensiv in Anspruch nahm. Vom
8. Juni 1887 an hielt sich N. wenige Tage in Lenzerheide auf, wo er die nach-
mals vieldiskutierte Aufzeichnung „Der europäische Nihilismus" verfasste
(KGW IX 3, N VII 3, 13-24 = NL 1887, KSA 12, 5[71], 211-217, vgl. NK 408, 30-
409, 2). Bereits am 12. Juni begab er sich nach Sils-Maria, wo er bis September
1887 bleiben und GM niederschreiben sollte. In seinem philosophischen „Wan-
derradikalismus" (Theißen 1989 prägte den Ausdruck im Blick auf Jesus), der
die Selbstentwurzelung in den Rang eines existenziellen und intellektuellen
Prinzips erhob, bedurfte N. der Ruhepole: Die Hauptaufenthaltsorte Nizza
(Winter) und Sils-Maria (Sommer) konnten ihm diese Ruhe zumindest zeitwei-
se bieten. Ab dem 21. September in Venedig, las N. dort mit Heinrich Köselitz
alias Peter Gast die Korrekturbogen des neuen Werkes, so dass das Buch in die
Produktion konnte, während N. am 22. Oktober in Nizza eintraf. Dort nahm er
in der ersten Novemberhälfte die ersten, in Windeseile von seinem Verleger
Constantin Georg Naumann gedruckten Exemplare des neuen Werkes in Emp-
fang und ließ es auch an die Schwester, Freunde, Bekannte und Multiplikato-
ren verschicken (zur Frage der genauen Datierung vgl. Schaberg 2002, 207).
N.s Angabe im Brief an Brandes, GM binnen 20 Tagen aufgegleist, verfasst
und druckfertig gemacht zu haben (vgl. auch N. an Köselitz, 08. 08. 1887,
KSB 8/KGB III 5, Nr. 886, S. 123, Z. 61-66), ist zwar wie alle ähnlichen Verlaut-
barungen N.s - etwa zu Also sprach Zarathustra (Za) - mit Vorsicht zu genie-
ßen, denn unverkennbar neigte N. dazu, die eruptive Entstehung seiner Werke
herauszustellen und sie zu einer ihn überwältigenden Inspiration zu stilisieren.
Indes ist nicht zu übersehen, dass im Unterschied zu anderen Werken, zu de-
nen es vor der eigentlichen Niederschrift umfangreiche Vorarbeiten im Nach-
lass gibt, diese bei GM weitgehend fehlen oder verloren gegangen sind (vgl.
KSA 14, 377). Überliefert ist immerhin das zweiteilige Druckmanuskript von N.s

https://d0i.org/10.1515/9783110293371-001
 
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