Überblickskommentar 35
zunächst wenig Aufmerksamkeit gefunden. Man war sich spätestens seit der
Publikation von EH 1908 bewusst, dass N. GM rückblickend nur zu den „Vorar-
beiten", immerhin zu den „entscheidende[n] Vorarbeiten" der „Umwerthung
aller Werthe" (EH GM, KSA 6, 353, 10-12) gerechnet wissen wollte, und deshalb
die Schrift erst, nachdem dieses Kontextwissen verblasst ist, in den Status ei-
nes Hauptwerks aufrücken konnte (vgl. Ansell Pearson 2006b, 20), von dem
heute wie selbstverständlich nicht nur gesagt werden kann, es sei „sans doute
le plus celebre [ouvrage] de son auteur" (Blondel 2017, 374, „ohne Zweifel das
berühmteste [Werk] seines Autors"), sondern auch „the most important piece
of moral philosophy since Kant" (Ridley 1998, 1) oder „the summit of Nietz-
sche's work" (Pittman 2006, 33).
Immerhin ist schon zeitgenössischen Lesern das Ungeheuerliche an der
immoralistischen Verve des Buchs nicht verborgen geblieben, etwa nicht dem
mit „Öcp" zeichnenden Rezensenten der Deutschen Rundschau vom März 1888,
wenn er GM als „seltsame Streitschrift gegen die moderne ,Vermoralisierung
des Lebens', d. h. gegen unsere gesammte, vom Verfasser in Acht und Bann
erklärte moralische Lebensauffassung" bezeichnete, deren „Grundgedanke"
„eine Ungeheuerlichkeit" sei, „die unser Empfinden empört; aber die Art der
Ausführung, die auch sehr viel Wahres, Treffendes, tief Gedachtes in den
Dienst dieses Gedankens zu stellen weiß, macht die Schrift gefährlich, denn
sie macht sie bedeutend und interessant" (Öcp 1888, zitiert nach Reich 2013,
669). 0. Sch., der das Werk für den Kunstwart vom 5. März 1888 bespricht,
stellt den „Anschluß an frühere Schriften (insbesondere an sein Buch ,Jenseits
von Gut und Böse')" (Sch. 1888, zitiert nach Reich 2013, 669) ausdrücklich fest,
während Paul Michaelis in der Nationalzeitung vom 11. März 1888 zunächst an
seine frühere Besprechung von JGB erinnert (Michaelis 1886, vgl. NK 5/1, S. 20),
wo er sich gefragt habe, ob es N. in jenem Werk mit dem radikalen Antimoralis-
mus tatsächlich ernst gewesen sei - eine Frage, die Michaelis im Blick auf GM
jetzt bejahen muss. „Nietzsche ist grob, aber er versucht es wenigstens, ehrlich
zu sein. Und so wagte er denn auch, den Finger zu Wunden zu legen, an denen
man sonst gern vorübersieht. Die Unehrlichkeit modernen Denkens, die Prüde-
rie, die Süßlichkeit und Geschmacklosigkeit, die Verzärtelung der Empfindun-
gen werden hier einmal mit drastischen Farben beleuchtet und gebührend zu-
rückgewiesen." (Michaelis 1888, zitiert nach Reich 2013, 676, zu dieser Stelle
N. - „eine intelligente und nicht unsympathische Besprechung" - im Brief an
Köselitz vom 21. 03. 1888, KSB 8/KGB III 5, Nr. 1007, S. 276, Z. 62 f.) Michaelis
hält freilich dagegen: Wenn N. „daran zu zweifeln scheint, ob es der Sinn aller
Kultur sei, aus dem Raubthiere Mensch ein zahmes und civilisirtes Thier, ein
Hausthier, herauszuzüchten, da ja alsdann alle jene Reaktions- und Ressenti-
ments-Instinkte, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Ide-
zunächst wenig Aufmerksamkeit gefunden. Man war sich spätestens seit der
Publikation von EH 1908 bewusst, dass N. GM rückblickend nur zu den „Vorar-
beiten", immerhin zu den „entscheidende[n] Vorarbeiten" der „Umwerthung
aller Werthe" (EH GM, KSA 6, 353, 10-12) gerechnet wissen wollte, und deshalb
die Schrift erst, nachdem dieses Kontextwissen verblasst ist, in den Status ei-
nes Hauptwerks aufrücken konnte (vgl. Ansell Pearson 2006b, 20), von dem
heute wie selbstverständlich nicht nur gesagt werden kann, es sei „sans doute
le plus celebre [ouvrage] de son auteur" (Blondel 2017, 374, „ohne Zweifel das
berühmteste [Werk] seines Autors"), sondern auch „the most important piece
of moral philosophy since Kant" (Ridley 1998, 1) oder „the summit of Nietz-
sche's work" (Pittman 2006, 33).
Immerhin ist schon zeitgenössischen Lesern das Ungeheuerliche an der
immoralistischen Verve des Buchs nicht verborgen geblieben, etwa nicht dem
mit „Öcp" zeichnenden Rezensenten der Deutschen Rundschau vom März 1888,
wenn er GM als „seltsame Streitschrift gegen die moderne ,Vermoralisierung
des Lebens', d. h. gegen unsere gesammte, vom Verfasser in Acht und Bann
erklärte moralische Lebensauffassung" bezeichnete, deren „Grundgedanke"
„eine Ungeheuerlichkeit" sei, „die unser Empfinden empört; aber die Art der
Ausführung, die auch sehr viel Wahres, Treffendes, tief Gedachtes in den
Dienst dieses Gedankens zu stellen weiß, macht die Schrift gefährlich, denn
sie macht sie bedeutend und interessant" (Öcp 1888, zitiert nach Reich 2013,
669). 0. Sch., der das Werk für den Kunstwart vom 5. März 1888 bespricht,
stellt den „Anschluß an frühere Schriften (insbesondere an sein Buch ,Jenseits
von Gut und Böse')" (Sch. 1888, zitiert nach Reich 2013, 669) ausdrücklich fest,
während Paul Michaelis in der Nationalzeitung vom 11. März 1888 zunächst an
seine frühere Besprechung von JGB erinnert (Michaelis 1886, vgl. NK 5/1, S. 20),
wo er sich gefragt habe, ob es N. in jenem Werk mit dem radikalen Antimoralis-
mus tatsächlich ernst gewesen sei - eine Frage, die Michaelis im Blick auf GM
jetzt bejahen muss. „Nietzsche ist grob, aber er versucht es wenigstens, ehrlich
zu sein. Und so wagte er denn auch, den Finger zu Wunden zu legen, an denen
man sonst gern vorübersieht. Die Unehrlichkeit modernen Denkens, die Prüde-
rie, die Süßlichkeit und Geschmacklosigkeit, die Verzärtelung der Empfindun-
gen werden hier einmal mit drastischen Farben beleuchtet und gebührend zu-
rückgewiesen." (Michaelis 1888, zitiert nach Reich 2013, 676, zu dieser Stelle
N. - „eine intelligente und nicht unsympathische Besprechung" - im Brief an
Köselitz vom 21. 03. 1888, KSB 8/KGB III 5, Nr. 1007, S. 276, Z. 62 f.) Michaelis
hält freilich dagegen: Wenn N. „daran zu zweifeln scheint, ob es der Sinn aller
Kultur sei, aus dem Raubthiere Mensch ein zahmes und civilisirtes Thier, ein
Hausthier, herauszuzüchten, da ja alsdann alle jene Reaktions- und Ressenti-
ments-Instinkte, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Ide-