38 Zur Genealogie der Moral
vollendetsten, aber ohne System mitteilen", andererseits sogleich dagegen
hält: „Es war ein vorläufiger Ersatz des Hauptwerks, nicht das Endziel" (Jas-
pers 1947, 51). In seinem 1925 veröffentlichten Werk Nietzsche ist GM für Theo-
dor Lessing nichts weiter als „der letzte Versuch streng wissenschaftlicher Be-
weisführung. Der Rest ward Feuerwerk." (Lessing 1985, 59 f.) Im zweiten Band
von Martin Heideggers Nietzsche, dessen Entstehung in die 1930er Jahre zu-
rückreicht, ist GM gerade noch für ein paar Zitate gut (Heidegger 1997, 6/2, 59,
65, 191 u. 267), während sie im ersten Band nur an zwei fast gleichlautenden
Stellen vorkommt, nämlich als diejenige Schrift, die seinen „Hauptbau" Der
Wille zur Macht ausdrücklich ankündige (Heidegger 1996, 6/1, 11 u. 369). Ist im
Gefolge Förster-Nietzsches der Vorausblick auf das nie vollendete, ja kaum in
Angriff genommene „Hauptwerk" die Leiterzählung, um GM innerhalb von N.s
Gesamtwerk zu domestizieren, kehrt Karl Löwith 1935 dieses Schema um, in-
dem er GM allein aus dem Rückbezug auf das schon geschriebene Hauptwerk
Also sprach Zarathustra erhellt sehen will, „als dessen Kommentare nicht nur
Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral, sondern auch alle
übrigen Schriften der nachfolgenden Zeit zu verstehen sind; denn es gibt in
ihnen keinen Gedanken, der nicht schon in der Gleichnisrede des Zarathustra
ebenso kurz wie beziehungsreich angedeutet ist" (Löwith 1987, 122). Auch für
Walter Kaufmann sind später JGB und GM vornehmlich Erläuterungen zu Za
(Kaufmann 1982, 75). Als eigenständig wird GM in all diesen Fällen philoso-
phisch ambitionierter N.-Interpretation nicht gewürdigt.
Eine bemerkenswerte Ausnahme aus den ersten fünfzig Jahren deutscher
N.-Forschung stellt die große und ausdrücklich germanistische N.-Monogra-
phie von Richard M. Meyer aus dem Jahr 1913 dar, die GM nicht nur ein Kapitel
von 27 Druckseiten widmet, sondern sie selbst als ein Hauptwerk würdigt: „Ge-
rade für die[..] innige, unlösbare Verwandtschaft des Weltpolitikers mit dem
Moralpsychologen gibt die ,Genealogie der Moral' die bedeutsamsten Beweise.
Rechnet man die ,Götzendämmerung' ihr als eine Art selbständigen Anhangs
zu, so bilden diese beiden das letzte wirklich in jedem Sinn bedeutende Werk
Nietzsches, und es überragt Jenseits von Gut und Böse' um so viel, wie altatti-
sche Kolonien ihre Mutterstädte oft überragten. [...] /510 / Aber hier haben wir
noch einmal den ganzen Nietzsche" (Meyer 1913, 509 f.).
GM hat, wie ein Großteil von N.s Schriften, stark selektive und heterogene
Aufnahme gefunden: Für Max Scheler bildete das Werk einen Ausgangspunkt
für das Nachdenken über Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1915, dazu
Köster 1993 und Hödl 2014), für Walter Rathenau einen Ausgangspunkt der
Jetztzeitanalyse (vgl. Brömsel 2015, 63). In manchen Fällen scheint die Lektüre
geradezu traumatisch gewesen zu sein. So erfährt man aus Alfred Döblins
Schicicsalsreise, die er im Exil während des Zweiten Weltkrieges verfasste und
vollendetsten, aber ohne System mitteilen", andererseits sogleich dagegen
hält: „Es war ein vorläufiger Ersatz des Hauptwerks, nicht das Endziel" (Jas-
pers 1947, 51). In seinem 1925 veröffentlichten Werk Nietzsche ist GM für Theo-
dor Lessing nichts weiter als „der letzte Versuch streng wissenschaftlicher Be-
weisführung. Der Rest ward Feuerwerk." (Lessing 1985, 59 f.) Im zweiten Band
von Martin Heideggers Nietzsche, dessen Entstehung in die 1930er Jahre zu-
rückreicht, ist GM gerade noch für ein paar Zitate gut (Heidegger 1997, 6/2, 59,
65, 191 u. 267), während sie im ersten Band nur an zwei fast gleichlautenden
Stellen vorkommt, nämlich als diejenige Schrift, die seinen „Hauptbau" Der
Wille zur Macht ausdrücklich ankündige (Heidegger 1996, 6/1, 11 u. 369). Ist im
Gefolge Förster-Nietzsches der Vorausblick auf das nie vollendete, ja kaum in
Angriff genommene „Hauptwerk" die Leiterzählung, um GM innerhalb von N.s
Gesamtwerk zu domestizieren, kehrt Karl Löwith 1935 dieses Schema um, in-
dem er GM allein aus dem Rückbezug auf das schon geschriebene Hauptwerk
Also sprach Zarathustra erhellt sehen will, „als dessen Kommentare nicht nur
Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral, sondern auch alle
übrigen Schriften der nachfolgenden Zeit zu verstehen sind; denn es gibt in
ihnen keinen Gedanken, der nicht schon in der Gleichnisrede des Zarathustra
ebenso kurz wie beziehungsreich angedeutet ist" (Löwith 1987, 122). Auch für
Walter Kaufmann sind später JGB und GM vornehmlich Erläuterungen zu Za
(Kaufmann 1982, 75). Als eigenständig wird GM in all diesen Fällen philoso-
phisch ambitionierter N.-Interpretation nicht gewürdigt.
Eine bemerkenswerte Ausnahme aus den ersten fünfzig Jahren deutscher
N.-Forschung stellt die große und ausdrücklich germanistische N.-Monogra-
phie von Richard M. Meyer aus dem Jahr 1913 dar, die GM nicht nur ein Kapitel
von 27 Druckseiten widmet, sondern sie selbst als ein Hauptwerk würdigt: „Ge-
rade für die[..] innige, unlösbare Verwandtschaft des Weltpolitikers mit dem
Moralpsychologen gibt die ,Genealogie der Moral' die bedeutsamsten Beweise.
Rechnet man die ,Götzendämmerung' ihr als eine Art selbständigen Anhangs
zu, so bilden diese beiden das letzte wirklich in jedem Sinn bedeutende Werk
Nietzsches, und es überragt Jenseits von Gut und Böse' um so viel, wie altatti-
sche Kolonien ihre Mutterstädte oft überragten. [...] /510 / Aber hier haben wir
noch einmal den ganzen Nietzsche" (Meyer 1913, 509 f.).
GM hat, wie ein Großteil von N.s Schriften, stark selektive und heterogene
Aufnahme gefunden: Für Max Scheler bildete das Werk einen Ausgangspunkt
für das Nachdenken über Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1915, dazu
Köster 1993 und Hödl 2014), für Walter Rathenau einen Ausgangspunkt der
Jetztzeitanalyse (vgl. Brömsel 2015, 63). In manchen Fällen scheint die Lektüre
geradezu traumatisch gewesen zu sein. So erfährt man aus Alfred Döblins
Schicicsalsreise, die er im Exil während des Zweiten Weltkrieges verfasste und