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42 Zur Genealogie der Moral

die Evolutionstheorie vor Augen stellt, ist eine gewordene Welt. Anthony Jen-
sen will beispielsweise zeigen, dass N. sich in GM einer kontrafaktualistischen
und antirealistischen Darstellungsweise geschichtlicher Gegebenheiten bedie-
ne (vgl. Jensen 2013b, 159). „Naturalismus" scheint jedenfalls eine sehr unvoll-
kommene Beschreibung dessen zu sein, was N.s Denken und Schreiben in GM
ausmacht.
Entsprechend reichhaltig sind die zeitgenössischen Angebote, wie GM
stattdessen verstanden werden könnte. Arthur C. Danto hält GM für ein „medi-
cal book: etiological, diagnostic, therapeutic, prognostic" (Danto 1994, 40),
wobei ihm das Therapeutische besonders am Herzen liegt, während Robert C.
Solomon die Schrift vor allem als „psychological diagnosis" (Solomon 2003,
45) verstanden wissen will. Daniel W. Conway sieht Genealogie als Verfahren,
das den immoralistischen Philosophen mit „case history" ausstatte und es ihm
erlaube, physiologische Symptome zu erkennen und zu interpretieren (Conway
1994, 323). Dabei gilt ihm GM als autobiographischer Entwurf, der die Leser zu
einer „voyage of self-discovery" animiere (Conway 2008b, 20, vgl. Viesenteiner
2009, 456). Ein regelrechtes Erziehungsprogramm sieht Conway in GM angelegt
(was Viesenteiner 2009, 456 f. zurückweist). Richard Schacht deutet demgegen-
über GM als den beherzten Versuch einer philosophischen Anthropologie - als
Versuch, den Menschen als solchen zu verstehen (Schacht 1994a, 433 f.). Craig
M. Dove bringt GM mit der gegenwärtigen „philosophy of mind" zusammen,
und zwar insbesondere im Blick darauf, dass N. die herkömmliche Vorstellung
eines verantwortlichen Selbst ablehne (Dove 2008, 7, vgl. Viesenteiner 2009,
458), wobei er eine angebliche Nähe N.s zu Paul Churchland und Daniel Den-
nett betont (Dove 2008, 4). Lawrence J. Hatab tritt für eine „perfektionistische"
Lesart von GM ein: N. wolle Exzellenz, Selbstvervollkommnung (Hatab 2008c,
219 f.), und eine weniger asketische, renaturalisiertere Kultur (ebd., 176, siehe
dazu Viesenteiner/Burnett 2010, 648; zum Perfektionismus auch Vaccari 2011).
Thomas Hurka deutet das Theorem des Willens zur Macht als teleologisch-per-
fektionistisches Prinzip (Hurka 2007, vgl. dazu kritisch Pfeuffer 2008b, 391 f.).
Für Christopher Janaway und David Owen kommt der rhetorischen Inszenie-
rung in GM bei der angeblich von N. angestrebten Befreiung vom Joch der alten
Moral eine entscheidende Bedeutung zu (Janaway 2007a u. Owen 2007, vgl.
Pfeuffer 2008b, 400, zur Funktion der Rhetorik in GM auch Posselt 2004). Ja-
vier A. Ibanez-Noe hält gegenüber allen Aktualisierungsbestrebungen fest,
dass N.s „ethical utterances are to be understood from a strictly historical per-
spective, and not as a contribution to an ongoing discourse concerning peren-
nial questions" (Ibanez-Noe 1994, 70).
Trotzdem ist zu vermerken, dass GM das Nachdenken über das Moralische
nach wie vor inspiriert (vgl. Höffe 2004a, 3 f.). Das stellt insbesondere Werner
 
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