80 Zur Genealogie der Moral
Weil man sich auf die Übersetzung verlässt, die „Mächtigkeit" mit „power"
wiedergibt, wird dann etwa darüber spekuliert, dass es bei alledem doch nur
um den Willen zur Macht gehe, um den es dem späten N. ohnehin immer zu
tun sei (Katsafanas 2011, 175-180): „Judeo-Christian morality is to be rejected
because it undermines the will to power." (Ebd., 187) Dass das Ende von
GM Vorrede 6 zunächst einmal nur Fragen stellt, aber weder eine allgemeine
moralgenealogische Methode noch eine Ontologie entwirft, blenden diese Dis-
kussionen ebenso aus wie das exegetische Gebot, einen Text zunächst einmal
in seinem Zusammenhang zu erschließen und zu erörtern, bevor man ihn mit
einem Wust anderer Passagen aus anderen Texten zukleistert, die alle irgend-
wie vom angeblich Selben (hier: vom Willen zur Macht) handeln. In diesen
Diskussionen kann man viel darüber lernen, welche Wirkungen ein Mangel an
Philologie in der Philosophie zeitigt, und wie man anhand von N.-Schnipseln
interessante analytisch-philosophische Gedankenexperimente anstellen kann,
ohne N.s Werke ernsthaft zu lesen. Zur Interpretation z. B. auch Siemens
2008b, 235, der meint feststellen zu können, dass in 253, 24-32 gegen demokra-
tische Werte opponiert werde, weil sie Uniformität begünstigten: N. „objects to
uniformity from a standpoint in pluralism". Die reichhaltige Gift-Metaphorik
(vgl. 253, 26) in GM untersucht Higgins 1994.
7.
Das sprechende „Ich" will die genealogischen Abgründe der Moral nicht allein
erschließen, sondern malt sich eine gemeinschaftliche Forschungsanstrengung
mit „gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen" (254, 3 f.) aus. Die Moral
wird jetzt als ein verstecktes und unerforschtes Land beschrieben, das der Er-
schließung harrt - wobei diese Entdeckungsmetaphorik eine gewisse Span-
nung zu der in GM Vorrede 7 evozierten, durchschlagenden kulturellen Wir-
kungsmacht erzeugt. Paul Ree wird ausdrücklich noch einmal als einer der
potentiellen Genossen aufgerufen, den das „Ich" auf den richtigen Weg einer
„wirklichen Historie der Moral" (254, 15) führen zu können gehofft hatte.
Es plädiert für ein unbedingtes Ernstnehmen der Moral, um erst später sich
vielleicht herausnehmen zu dürfen, „sie heiter zu nehmen" (254, 34-255, 1).
254, 17-22 Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen Moral-Genealogen
hundert Mal wichtiger sein muss als gerade das Blaue: nämlich das Graue,
will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewese-
ne, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der mensch-
lichen Moral-Vergangenheit!] Aus N.s Schriften lässt sich sonst keine Präferenz
für das „Graue" anstelle des „Blauen" ableiten, auch wenn im Schlussgedicht
Weil man sich auf die Übersetzung verlässt, die „Mächtigkeit" mit „power"
wiedergibt, wird dann etwa darüber spekuliert, dass es bei alledem doch nur
um den Willen zur Macht gehe, um den es dem späten N. ohnehin immer zu
tun sei (Katsafanas 2011, 175-180): „Judeo-Christian morality is to be rejected
because it undermines the will to power." (Ebd., 187) Dass das Ende von
GM Vorrede 6 zunächst einmal nur Fragen stellt, aber weder eine allgemeine
moralgenealogische Methode noch eine Ontologie entwirft, blenden diese Dis-
kussionen ebenso aus wie das exegetische Gebot, einen Text zunächst einmal
in seinem Zusammenhang zu erschließen und zu erörtern, bevor man ihn mit
einem Wust anderer Passagen aus anderen Texten zukleistert, die alle irgend-
wie vom angeblich Selben (hier: vom Willen zur Macht) handeln. In diesen
Diskussionen kann man viel darüber lernen, welche Wirkungen ein Mangel an
Philologie in der Philosophie zeitigt, und wie man anhand von N.-Schnipseln
interessante analytisch-philosophische Gedankenexperimente anstellen kann,
ohne N.s Werke ernsthaft zu lesen. Zur Interpretation z. B. auch Siemens
2008b, 235, der meint feststellen zu können, dass in 253, 24-32 gegen demokra-
tische Werte opponiert werde, weil sie Uniformität begünstigten: N. „objects to
uniformity from a standpoint in pluralism". Die reichhaltige Gift-Metaphorik
(vgl. 253, 26) in GM untersucht Higgins 1994.
7.
Das sprechende „Ich" will die genealogischen Abgründe der Moral nicht allein
erschließen, sondern malt sich eine gemeinschaftliche Forschungsanstrengung
mit „gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen" (254, 3 f.) aus. Die Moral
wird jetzt als ein verstecktes und unerforschtes Land beschrieben, das der Er-
schließung harrt - wobei diese Entdeckungsmetaphorik eine gewisse Span-
nung zu der in GM Vorrede 7 evozierten, durchschlagenden kulturellen Wir-
kungsmacht erzeugt. Paul Ree wird ausdrücklich noch einmal als einer der
potentiellen Genossen aufgerufen, den das „Ich" auf den richtigen Weg einer
„wirklichen Historie der Moral" (254, 15) führen zu können gehofft hatte.
Es plädiert für ein unbedingtes Ernstnehmen der Moral, um erst später sich
vielleicht herausnehmen zu dürfen, „sie heiter zu nehmen" (254, 34-255, 1).
254, 17-22 Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen Moral-Genealogen
hundert Mal wichtiger sein muss als gerade das Blaue: nämlich das Graue,
will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewese-
ne, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der mensch-
lichen Moral-Vergangenheit!] Aus N.s Schriften lässt sich sonst keine Präferenz
für das „Graue" anstelle des „Blauen" ableiten, auch wenn im Schlussgedicht