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86 Zur Genealogie der Moral

method of reading". Zur Verbindung von GM Vorrede 8 mit M Vorrede siehe
Tongeren 2012a, 11 f.; was der Begriff der „Auslegung" in 255, 25-256, 2 bedeu-
tet, versucht Blackman 2010 zu ergründen.
Dass die Form von GM manchen Lesern missfallen hat, erstaunt nicht -
auch nicht, dass sie wie Paul Michaelis in seiner Rezension für die National-
Zeitung vom 11. 03. 1888 auf GM Vorrede 8 Bezug nehmen: „Es ist zu beklagen,
daß auch hier [sc. in GM] wieder Nietzsche es verschmäht hat, seine Gedanken
systematisch auszuarbeiten und in logischer Darstellung zu begründen. Es
sind abgerissene Sätze, Apercus, Paradoxien, Aphorismen, in denen er seine
neuen Ansichten vorträgt. Dadurch wird fraglos nicht nur das Verständniß er-
schwert, sondern auch eine Unklarheit in der Folgerichtigkeit der Beweisfüh-
rung begünstigt und verdeckt. Es ist selbstverständlich, daß ein Autor, der die-
se Form vorzugsweise anwendet, suchen wird, sie zu vertheidigen; und Nietz-
sche ist sehr geneigt, ein Mißverständniß seiner Ausführungen der Einfältigkeit
des Lesers zuzuschreiben. Er verlangt für seine Aphorismen eine Kunst der
Auslegung; es genügt nicht, daß man ihn ablese, man soll ihn entziffern, wozu
besonders eins dem modernen Menschen noththue, ,das Wiederkäuen'. Aber
es ist zu viel verlangt, daß der Leser schwer nehmen soll, was der Autor selbst
so leicht nimmt" (zitiert nach Reich 2013, 671).
255, 31-256, 2 Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von
dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle „Auslegung" nenne: — dieser
Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar.]
Wilcox 1997 und Wilcox 1998, Janaway 1997 und Clark 1997 argumentieren zu
Recht, der hier gemeinte „Aphorismus" sei nicht, wie man bis dahin anzuneh-
men geneigt war (z. B. Scheier 1990, CXXI; Shapiro 1994, 369; Magnus/Mileur/
Stewart 1994, 404; Danto 1994, 35; Niemeyer in NLex2 433 u. noch Dorschel
2018, 84), das der Dritten Abhandlung vorangestellte Motto aus Za I Vom Lesen
und Schreiben (KSA 5, 339, 3-6), sondern der erste Absatz dieser Abhandlung
(GM III 1, KSA 5, 339, 8-30, vgl. zur Diskussion auch Babich 2006 u. Tongeren
2012a, 6, Fn. 12). Das Za-Motto scheint N. erst nachträglich hinzugefügt zu ha-
ben; es fehlt jedenfalls im Druckmanuskript von GM III (GSA 71/27,2, fol. Ir
u. 2r). Im Druckmanuskript finden sich hingegen die gleichfalls später, aber
offensichtlich noch vor dem Za-Motto ergänzten Texte GM Vorrede 8 (GSA 71/
27,1, fol. 4r) und der schließliche Abschnitt GM III 1 (GSA 71/27,2, fol. Ir), die
sich also nicht auf ein noch fehlendes Motto bezogen haben können.
256, 2-7 Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor
Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist — und darum
hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit" meiner Schriften —, zu dem man beinahe
Kuh und jedenfalls nicht „moderner Mensch" sein muss: das Wiederkäu-
 
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