Stellenkommentar GM Vorrede 8, KSA 5, S. 255-256 87
en...] Während in anderen Werken N.s die „wiederkäuende" Praxis der Gelehr-
ten ironisiert wird (vgl. z. B. NK KSA 6, 320, 22-321, 6), oder Zarathustra in
scharfem Gegensatz zum Bettler gezeichnet wird, der da verkündet: „So wir
nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Him-
melreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen" (Za IV
Der freiwillige Bettler, KSA 4, 334, 14-16), ist diese Stelle die einzige, die das
Wiederkäuen zur hermeneutischen Maxime, zur Leseanweisung erhebt. Inter-
preten dieser Interpretationsdirektive pflegen auf Friedrich Schlegels Lyceums-
Fragment 27 zu verweisen: „Ein Kritiker ist ein Leser, der wiederkäut", und
insinuieren dabei eine Abhängigkeit N.s von Schlegel (Behler 1975, 27 u. Gray
2009, 62). Dabei wird gerne übersehen, dass die Identifikation von Lesen und
ruminatio, „Wiederkäuen" in der allegorischen Auslegung von 3. Buch Mose 11,
3 und 5. Buch Mose 14, 6 zu den ältesten Topoi der religiösen Hermeneutik
zählt. In der meditatio käut der Mönch die heiligen Texte wieder und wieder,
um den tiefsten Schriftsinn zu ergründen - eine Vorstellung, die schon bei
Augustinus prominent wird und sich über das Mittelalter bis in die Neuzeit
fortpflanzt (vgl. z. B. Ruppert 1977 u. Czapla 2006, 161 f.). Zum hermeneuti-
schen Selbstverständnis frühneuzeitlicher Wissenschaft gehörte die Unter-
scheidung unterschiedlicher Lektüre-Techniken: Gemäß Francis Bacons Essay
Of Studies reiche es bei manchen Büchern, von ihnen nur zu kosten, während
man andere verschlingen müsse und ein paar wenige sogar durchkauen und
verdauen („Some books are to be tasted, others to be swallowed, and some few
to be chewed and digested". Bacon 1846, 1, 55, vgl. Burke 2018, 108). N. konnte
dem Topos des wiederkäuenden Lesens beispielsweise bei seiner Lektüre von
Christoph Lehmanns Blumengarten (vgl. NK KSA 5, 229, 23-25) abgewandelt
finden: „Bücher fressen und nicht käuen ist ungesund und macht cruditates
im Hirn." (Lehmann 1879, 52) Da sich N. ansonsten von „gelehrte[m] Hornvieh"
(EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1, KSA 6, 300, 25) fernzuhalten pflegt
(zum „Hornvieh" vgl. z. B. auch NK 407, 24-408, 9 u. KGW IX 4, W I 3, 113,
25-35 u. 110, 1-24), ist der ironische Zungenschlag in der ruminatio-Lektüre-
anweisung nicht zu überhören. N. selbst hat übrigens oft die genau entgegen-
gesetzte Lektürepraxis geübt: Im Umgang mit dem, was er liest, ist er ein hasti-
ger Schlinger, der herausgerissene Beutestücke ohne Kauen hinunterwürgt, bei
Bedarf mehr oder weniger verdaut wiedergibt und sich um den Gesamtzusam-
menhang des Gelesenen nur selten schert. N. liest oft strategisch auf seine Zwe-
cke hin und nicht um des Gelesenen willen.
256, 8 f. Sils-Maria, Oberengadin, I im Juli 1887, N. hielt sich vom 12. 06. bis
19. 09. 1887 zum fünften Mal in Sils-Maria auf. Über das Oberengadin hat er
sich, obwohl er es schon längst aus eigener Erfahrung kannte, auch noch in
Chur weiter kundig gemacht, als er am 14. 05. 1887 der dortigen Bibliothek Jo-
en...] Während in anderen Werken N.s die „wiederkäuende" Praxis der Gelehr-
ten ironisiert wird (vgl. z. B. NK KSA 6, 320, 22-321, 6), oder Zarathustra in
scharfem Gegensatz zum Bettler gezeichnet wird, der da verkündet: „So wir
nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Him-
melreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen" (Za IV
Der freiwillige Bettler, KSA 4, 334, 14-16), ist diese Stelle die einzige, die das
Wiederkäuen zur hermeneutischen Maxime, zur Leseanweisung erhebt. Inter-
preten dieser Interpretationsdirektive pflegen auf Friedrich Schlegels Lyceums-
Fragment 27 zu verweisen: „Ein Kritiker ist ein Leser, der wiederkäut", und
insinuieren dabei eine Abhängigkeit N.s von Schlegel (Behler 1975, 27 u. Gray
2009, 62). Dabei wird gerne übersehen, dass die Identifikation von Lesen und
ruminatio, „Wiederkäuen" in der allegorischen Auslegung von 3. Buch Mose 11,
3 und 5. Buch Mose 14, 6 zu den ältesten Topoi der religiösen Hermeneutik
zählt. In der meditatio käut der Mönch die heiligen Texte wieder und wieder,
um den tiefsten Schriftsinn zu ergründen - eine Vorstellung, die schon bei
Augustinus prominent wird und sich über das Mittelalter bis in die Neuzeit
fortpflanzt (vgl. z. B. Ruppert 1977 u. Czapla 2006, 161 f.). Zum hermeneuti-
schen Selbstverständnis frühneuzeitlicher Wissenschaft gehörte die Unter-
scheidung unterschiedlicher Lektüre-Techniken: Gemäß Francis Bacons Essay
Of Studies reiche es bei manchen Büchern, von ihnen nur zu kosten, während
man andere verschlingen müsse und ein paar wenige sogar durchkauen und
verdauen („Some books are to be tasted, others to be swallowed, and some few
to be chewed and digested". Bacon 1846, 1, 55, vgl. Burke 2018, 108). N. konnte
dem Topos des wiederkäuenden Lesens beispielsweise bei seiner Lektüre von
Christoph Lehmanns Blumengarten (vgl. NK KSA 5, 229, 23-25) abgewandelt
finden: „Bücher fressen und nicht käuen ist ungesund und macht cruditates
im Hirn." (Lehmann 1879, 52) Da sich N. ansonsten von „gelehrte[m] Hornvieh"
(EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1, KSA 6, 300, 25) fernzuhalten pflegt
(zum „Hornvieh" vgl. z. B. auch NK 407, 24-408, 9 u. KGW IX 4, W I 3, 113,
25-35 u. 110, 1-24), ist der ironische Zungenschlag in der ruminatio-Lektüre-
anweisung nicht zu überhören. N. selbst hat übrigens oft die genau entgegen-
gesetzte Lektürepraxis geübt: Im Umgang mit dem, was er liest, ist er ein hasti-
ger Schlinger, der herausgerissene Beutestücke ohne Kauen hinunterwürgt, bei
Bedarf mehr oder weniger verdaut wiedergibt und sich um den Gesamtzusam-
menhang des Gelesenen nur selten schert. N. liest oft strategisch auf seine Zwe-
cke hin und nicht um des Gelesenen willen.
256, 8 f. Sils-Maria, Oberengadin, I im Juli 1887, N. hielt sich vom 12. 06. bis
19. 09. 1887 zum fünften Mal in Sils-Maria auf. Über das Oberengadin hat er
sich, obwohl er es schon längst aus eigener Erfahrung kannte, auch noch in
Chur weiter kundig gemacht, als er am 14. 05. 1887 der dortigen Bibliothek Jo-