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Stellenkommentar GM I 6, KSA 5, S. 265 125

dem Gesamtduktus von GM doch sonst ableiten, der Verfasser hege irgendein
humanistisches Interesse, die „Klüfte zwischen Mensch und Mensch" wieder
zu kitten - brandmarkt er doch wiederholt die Vorstellung von der Gleichheit
aller Menschen als ein christlich-demokratisches Ideologem, das die ,natürli-
chen' gesellschaftlichen Hierarchien zerstört habe. Und doch ist die soziale
Stratifikation in Priesteraristokratien augenscheinlich auch keine, für die
GM I 6 irgendwelche Sympathien erkennen lässt - wohl deswegen nicht, weil
die Priester-Aristokraten den Herrschaftsanspruch der kriegerischen Schichten
unterminieren. Doch die Kritik an der priesterlich-aristokratischen Stratifikati-
on bezieht sich gerade nicht auf diesen Umstand, sondern macht Anleihen bei
einem egalitaristischen Argumentationsrepertoire. Die Priester-Aristokraten er-
zeugen nach GM I 6 etwas, was in JGB 257 als „Pathos der Distanz" ausgespro-
chen positiv bewertet zu werden scheint (vgl. NK KSA 5, 205, 9-20), hier aber
aus vermeintlich egalitaristischer Sicht als „gefährlich" erscheint, als sei es
irgendwie verabscheuungswürdig, „Klüfte zwischen Mensch und Mensch" auf-
zureißen (Gentili 2015b, 107 verwischt die Differenz beider Passagen). Damit
reißt GM I 6 selbst Klüfte auf und unterläuft ideologische Erwartungen, die
aufgerufen werden durch den Gedanken menschlicher Ungleichheit.
265, 19 f. intestinale Krankhaftigkeit] In der medizinischen Fachsprache sind
„Intestina" die Gedärme oder Eingeweide; „intestinal" weiß schon zu N.s
Zeit das normale Konversationslexikon nachzuweisen: „auf die Gedärme
bezüglich" (Meyer 1885-1892, 8, 1005). W II 5, 99, 28 (KGW IX 8) handelt
im Blick auf Lyrik vom „intestinalen Fieber[.]" (vgl. NL 1888, KSA 13, 14[120],
300, 8).
265, 20 Neurasthenie] Dies ist die einzige Stelle, an der N. im veröffentlichten
Werk den in der zeitgenössischen medizinischen Literatur gebräuchlichen
Fachausdruck „Neurasthenie" benutzt, der „Nervenschwäche" bedeutet und
dann um 1900 eine bemerkenswerte populäre Karriere antreten sollte, die sich
beispielhaft an George Miller Beards American Nervousness (1881) entzündet
hatte (dazu Eckart 2009, der freilich N.s katalytische Wirkung in diesem Dis-
kurs ausspart). In N.s spätem Nachlass wird etwa ein halbes Dutzend Mal
„Neurasthenie" in kulturdiagnostischer und kulturkritischer Absicht bemüht,
vgl. die in NK KSA 6, 230, 31 f. u. NK KSA 6, 11, 22 f. mitgeteilten Passagen.
Leopold Löwenfeld, der für N. hier eine zentrale Quelle ist (vgl. NK 265, 28-
31), vermerkt schon 1887: „Nervosität, Nervenschwäche, Neurasthenie und
Hysterie, diese Ausdrücke sind zwar heutzutage in Jedermanns Munde, allein
die Bedeutung, die hiemit verknüpft wird, ist keineswegs immer die gleiche."
(Löwenfeld 1887, 2) „Die Neurasthenie und Hysterie kennzeichnet dagegen der
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