126 Zur Genealogie der Moral
gleiche Grundzug wie die einfache Nervosität: die verminderte Leistungsfähig-
keit und gesteigerte Reizbarkeit des Nervensystems. Diese beiden lassen sich
daher mit der Nervosität als die nervösen Schwächezustände kut'
go@ bezeichnen." (Ebd., 4) Wie aber ist es um den Unterschied von Hysterie
und Neurasthenie bestellt? Immerhin habe man, ,,[b]efangen von der histori-
schen Entwickelung der Begriffe, [...] noch in neuerer Zeit strenge Grenzen zwi-
schen Neurasthenie und Hysterie ziehen wollen. Allein alle diese Versuche ha-
ben sich erfolglos erwiesen. Wer über grössere Beobachtungsreihen in Bezug
auf die in Rede stehenden Krankheiten verfügt, muss zugestehen, dass in nicht
wenigen Fällen typischer Neurasthenie (im Beard'schen Sinne) hysterische
Züge auftreten, andererseits in den Fällen classischer Hysterie die verschiede-
nen Symptome der Neurasthenie sich finden, dass also das Gebiet der Neuras-
thenie und der Hysterie sich zum grossen Theile wenigstens deckt. Es hat da-
her jedenfalls eine gewisse Berechtigung, wenn man von hysterischer Neuras-
thenie und neurasthenischer Hysterie spricht, und manche Autoren der
Gegenwart auf die Bezeichnung nervöser Schwächezustände, ob als Nervosität,
Neurasthenie oder Hysterie überhaupt kein Gewicht mehr legen." (Ebd., 5) Vom
Ausdruck „Hysterie" wiederum macht N. inflationären und stets denunziatori-
schen Gebrauch, wenn er ad hominem argumentiert (vgl. 265, 31); zu den Zu-
sammenhängen mit dem Hysteriediskurs siehe NK KSA 6, 22, 26-30 u. NK
KSA 6, 94, 5-7. Bei der Lektüre von Harald Höffdings Psychologie in Umrissen
schreibt N. groß „Neurasthenie" am unteren Blatte auf eine Seite, wo es u. a.
heißt: „Hier ist nur noch bemerkenswert, dass die Hemmungserscheinungen
um so stärker auftreten, je lebenskräftiger der Organismus ist, während sie
bei Müdigkeit schwächer sind. Der Zustand des Zentralorgans ist hierbei von
entscheidendem Einfluss; ist es ermattet, schlecht genährt, durch Kälte oder
durch Strychnin und gewisse andre Gifte gereizt, so gewinnt die Reflexbewe-
gung an Schnelligkeit, Stärke und Ausdehnung. Bei ,nervenschwachen' Perso-
nen, deren krankhafter Zustand mit Störungen der Ernährung in Muskeln und
Nerven verbunden ist, findet man starken Hang zu Reflexbewegungen und
Krämpfen" (Höffding 1887, 54. N.s Unterstreichungen, mehrere Randstriche).
Vgl. zum Hemmungsbegriff NK 378, 4-7.
265, 25-28 Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen (Vermeidung des
Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht
„in die Wüste"] Vgl. M 14, KSA 3, 27 f. Dort wird Lubbock 1875, 215 ironisch
umgedeutet. Da Jesus „in die Wüste" ging (vgl. z. B. Markus 1, 12 u. Matthäus 4,
1), machten es ihm asketische Anhänger gerne nach. N. hat das Wüstenmotiv
seinerseits oft benutzt, um die Leere, Trost- und Fruchtlosigkeit der Gegenwart
auszumalen, siehe etwa NK 351, 12-19 und NK KSA 6, 382, 24.
gleiche Grundzug wie die einfache Nervosität: die verminderte Leistungsfähig-
keit und gesteigerte Reizbarkeit des Nervensystems. Diese beiden lassen sich
daher mit der Nervosität als die nervösen Schwächezustände kut'
go@ bezeichnen." (Ebd., 4) Wie aber ist es um den Unterschied von Hysterie
und Neurasthenie bestellt? Immerhin habe man, ,,[b]efangen von der histori-
schen Entwickelung der Begriffe, [...] noch in neuerer Zeit strenge Grenzen zwi-
schen Neurasthenie und Hysterie ziehen wollen. Allein alle diese Versuche ha-
ben sich erfolglos erwiesen. Wer über grössere Beobachtungsreihen in Bezug
auf die in Rede stehenden Krankheiten verfügt, muss zugestehen, dass in nicht
wenigen Fällen typischer Neurasthenie (im Beard'schen Sinne) hysterische
Züge auftreten, andererseits in den Fällen classischer Hysterie die verschiede-
nen Symptome der Neurasthenie sich finden, dass also das Gebiet der Neuras-
thenie und der Hysterie sich zum grossen Theile wenigstens deckt. Es hat da-
her jedenfalls eine gewisse Berechtigung, wenn man von hysterischer Neuras-
thenie und neurasthenischer Hysterie spricht, und manche Autoren der
Gegenwart auf die Bezeichnung nervöser Schwächezustände, ob als Nervosität,
Neurasthenie oder Hysterie überhaupt kein Gewicht mehr legen." (Ebd., 5) Vom
Ausdruck „Hysterie" wiederum macht N. inflationären und stets denunziatori-
schen Gebrauch, wenn er ad hominem argumentiert (vgl. 265, 31); zu den Zu-
sammenhängen mit dem Hysteriediskurs siehe NK KSA 6, 22, 26-30 u. NK
KSA 6, 94, 5-7. Bei der Lektüre von Harald Höffdings Psychologie in Umrissen
schreibt N. groß „Neurasthenie" am unteren Blatte auf eine Seite, wo es u. a.
heißt: „Hier ist nur noch bemerkenswert, dass die Hemmungserscheinungen
um so stärker auftreten, je lebenskräftiger der Organismus ist, während sie
bei Müdigkeit schwächer sind. Der Zustand des Zentralorgans ist hierbei von
entscheidendem Einfluss; ist es ermattet, schlecht genährt, durch Kälte oder
durch Strychnin und gewisse andre Gifte gereizt, so gewinnt die Reflexbewe-
gung an Schnelligkeit, Stärke und Ausdehnung. Bei ,nervenschwachen' Perso-
nen, deren krankhafter Zustand mit Störungen der Ernährung in Muskeln und
Nerven verbunden ist, findet man starken Hang zu Reflexbewegungen und
Krämpfen" (Höffding 1887, 54. N.s Unterstreichungen, mehrere Randstriche).
Vgl. zum Hemmungsbegriff NK 378, 4-7.
265, 25-28 Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen (Vermeidung des
Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht
„in die Wüste"] Vgl. M 14, KSA 3, 27 f. Dort wird Lubbock 1875, 215 ironisch
umgedeutet. Da Jesus „in die Wüste" ging (vgl. z. B. Markus 1, 12 u. Matthäus 4,
1), machten es ihm asketische Anhänger gerne nach. N. hat das Wüstenmotiv
seinerseits oft benutzt, um die Leere, Trost- und Fruchtlosigkeit der Gegenwart
auszumalen, siehe etwa NK 351, 12-19 und NK KSA 6, 382, 24.