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134 Zur Genealogie der Moral

den Kulturen des näheren Orients und des Mittelmeeres. Friedrich von Hell-
wald bedient sich beispielsweise des Musters und der Terminologie in seiner
Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart bei der Cha-
rakterisierung altindischer (Hellwald 1876a-1877a, 1, 182-184) und altägypti-
scher (ebd., 218-224 u. 236) Verhältnisse, während es seines Erachtens im Nor-
den Europas (ebd., 66) sowie in Griechenland und Rom (ebd., 494) ursprüng-
lich keine „Priesterkaste" gegeben habe. Wie in GM impliziert dies bei Hellwald
eine deutliche Bevorzugung der nicht priesterlich kontaminierten Kulturen als
gesund und lebenskräftig (vgl. auch den Versuch von Steinmann 1997/98, 152-
154, das Verhältnis von „Kriegerkaste" und „Priesterkaste" in GM I 7 im Aus-
blick auf Max Weber zu rekonstruieren). In NL 1884, KSA 11, 26[225], 209, 1-3
wird behauptet, die „Vergöttlichung des Machtgefühls im Brahmanen" sei zu-
erst „in der Krieger-Kaste entstanden und erst übergegangen [...] auf die
Priester". 1880 hatte N. Jacob Wackernagels Vortrag Ueber den Ursprung des
Brahmanismus exzerpiert und in seine damaligen Überlegungen zum „Macht-
gefühl" eingepasst (siehe Brusotti 1993, 226-242 u. Brusotti 1999, 99 f.). Wacker-
nagel selbst, der nicht von „Machtgefühl" redet, hat die Brahmanen jedoch
durchaus ursprünglich und nicht erst abgeleitet mächtig sein lassen, vgl.
NK 266, 30-32. Ausdrücklich als „Kampf" charakterisiert das urtümliche Ver-
hältnis von Priestertum und Kriegerelite Otto Caspari in seiner Urgeschichte der
Menschheit mit Rücksicht auf die natürliche Entwickelung des frühesten Geistes-
lebens, die sich einst in Nietzsches Bibliothek befunden hatte. Ein langes Kapi-
tel ist dem Thema „Die Priesterkämpfe der Urzeit unter den begabtesten Cultur-
völkern" gewidmet (Caspari 1877, 2, 178-205, vgl. NK KSA 6, 174, 31-175, 3).
266, 23-28 Die ritterlich-aristokratischen Werthurtheile haben zu ihrer Voraus-
setzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumen-
de Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd,
Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Han-
deln in sich schliesst.] Dieses idealisierende Bild der kriegerisch-„ritterlichen"
Aristokratien verdankt sich N.s romantischen Jugendlektüren (von Novalis und
Tieck bis Scott und Hauff) vielleicht mehr als seriöser zeitgenössischer For-
schung, auch wenn N. beispielsweise zu den alten Griechen bei Schmidt 1882b,
2, 229 lesen konnte: „So sah man in der Jagd gern eine Vorbereitung für den
Krieg, eine Betrachtungsweise, welche in Sparta zu ihrer Aufnahme unter die
gesetzlichen Beschäftigungen der erwachsenen Bürger führte". Migotti 2006,
111 nimmt 266, 23-28 zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über die Vor-
nehmen, deren Werte selbsterzeugt (und nicht reaktiv) seien und zugleich in-
trinsisch wirkten: sie würden um ihrer selbst willen angestrebt und auch ver-
wirklicht. Dabei blendet Migotti freilich großzügig aus, dass diese Verwirkli-
chung nur durch die Unterjochung anderer Menschen zustande kommt - ein
 
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