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136 Zur Genealogie der Moral

schaft gelangt, denn ihre Kunst war in den Augen ihrer Mitmenschen eine
stärkere Macht als die physische Kraft, welche an und für sich gleichen Zau-
ber nicht zu vollbringen vermochte. Diese Feuerschamanen der Urzeit waren
also die ersten Götter und Priester zugleich in einer Person. Was ihre
Macht, ihr Uebergewicht von jener unberechenbaren Vergangenheit bis auf
heutige Tage begründet hat, war, dass sie mehr wussten oder verrichten
konnten, als die grosse Menge; ihre Ueberlegenheit ist also eine geistige, ja sie
wurden geradezu die Träger des höchsten menschlichen Wissens." (Ebd., 77)
Der entscheidende Differenzpunkt zwischen Hellwald und N.s moralgenealogi-
scher Rekapitulation besteht darin, dass für Hellwald die Priesterschaft, seit
sie sich des Feuers bemächtigt hat, nicht mehr in der Position der Ohnmacht
ist, die ihr GM I 7 unterstellt (vgl. JGB 260, KSA 5, 208-212). Auch Jacob Wacker-
nagel behauptet in seinem N. durch intensive Lektüre wohlvertrauten Vortrag
Ueber den Ursprung des Brahmanismus apodiktisch: „Zudem kennen alle Stäm-
me von der ersten, geschichtlicher Kenntniss zugänglichen Zeit an mächtige
Priesterschaften." (Wackernagel 1877, 31) Und er erklärt das Phänomen in Indi-
en spezifisch: „Es beruht also die Macht der Brahmanen auf dem durch die
Inder verschärften indogermanischen Opfergedanken" (ebd., 34).
266, 32-267, 5 Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Hass in's Ungeheure
und Unheimliche, in's Geistigste und Giftigste. Die ganz grossen Hasser in der
Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser: —
gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist
kaum in Betracht.] Der den „Priester" und überhaupt religiös Bewegten unter-
stellte Hass ist ein zentrales, ständig wiederkehrendes Motiv in N.s später Reli-
gions- und Christentumskritik, vgl. z. B. NK KSA 6, 181, 31-182, 2; NK KSA 6,
188, 16-18; NK KSA 6, 212, 17-23 u. NK KSA 6, 215, 30-216, 1. In JGB spielt es
noch kaum eine Rolle, stattdessen wird gelegentlich auf das christliche Gebot
der Feindesliebe angespielt, das ja denen wohl zu tun gebietet, die einen has-
sen (Lukas 6, 27, vgl. NK KSA 5, 152, 18-20). JGB 263 ruft zwar das Stendhal-
Wort in Erinnerung, dass es die Verschiedenheit sei, die Hass erzeuge (vgl. NK
KSA 5, 217, 26), wendet es aber nicht auf die Priester an, die auch nach der
Exposition von GM I 6 und der von N. konsultierten historischen Literatur ei-
gentlich nicht zum Hass prädisponiert scheinen, da sie ja eben gerade nicht
ohnmächtig sind, wie 266, 32 unvermittelt behauptet. Aus dem „eifersüch-
tig[en]" Entgegentreten von 266, 21 f. - ein Begriff, der zunächst nur die Macht-
konkurrenz der beiden dominierenden sozialen Gruppen indiziert, aber doch
bereits negativ einfärbt - wird unter der Hand eine irgendwie unüberwindli-
che, nur durch Hass kompensierbare Unterlegenheit aus Ohnmacht. Diese
Ohnmachtssuggestion lebt davon, dass die „Kriegerkaste" offensichtlich die
physische Überlegenheit besitzt. Allerdings erscheint nur bedingt plausibel,
 
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