142 Zur Genealogie der Moral
8.
Während GM I 7 zu Beginn von den fiktiven Lesern in dritter Person als „man"
spricht (266, 17), adressiert GM I 8 die geihrzten statt gesiezten Leser direkt
und unterstellt ihnen, „keine Augen" (268, 7) für das offenkundig Zu-Tage-
Liegende zu haben, nämlich für den am Ende von GM I 7 namhaft gemachten
Umstand, dass der vor 2000 Jahren erfolgte Sklavenaufstand in der Moral er-
folgreich und bis heute „siegreich gewesen ist" (268, 5). Dieses Übersehen-Kön-
nen des Offenkundigen erklärt GM I 8 damit, dass es dem Judentum gelungen
sei, zu verschleiern, dass das Christentum ganz das Produkt seines Hasses ist.
Jesus von Nazareth wird in Übereinstimmung sowohl mit der christlichen Über-
lieferung als auch mit Autoren wie Renan zwar als „das leibhafte Evangelium
der Liebe" (268, 28) verstanden; diese Liebe ist aber nicht der Gegensatz, son-
dern die eigentliche Konsequenz des „jüdischen Hasses" (268, 29) - und zwar
nicht im Sinne einer dialektischen Überwindung, sondern als Mittel, die nicht-
jüdische Welt zu den „jüdischen Werthen" (268, 32) zu verführen: Mit offen-
kundigem Hass wäre die nichtjüdische Welt nicht zu überzeugen und zu über-
winden gewesen, mit Liebe hingegen schon. Gerade der Umstand, dass die
Juden Jesus scheinbar als Hassobjekt der Hinrichtung ausgeliefert haben, er-
scheint - wenigstens in einer rhetorischen oder „hypothetischen Frage" (Steg-
maier 1994, 115) - als überaus kluges Mittel der Selbstermächtigung: Habe „Is-
rael" nicht „selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie
etwas Todfeindliches verleugnen und an's Kreuz schlagen" müssen, „damit
,alle Welt', nämlich alle Gegner Israel's unbedenklich gerade an diesem Köder
anbeissen konnten" (269, 7-10)? Der Kreuzestod Jesu wäre dann nicht wie in
der christlich-kirchlichen Lehre der Preis in der Heilsökonomie Gottes - näm-
lich durch den Sühnetod seines Todes die Menschheit zu erlösen -, sondern
der Preis in der Machtökonomie der Juden, die militärisch-politisch auf keinen
grünen Zweig haben kommen können, also quasi das Produkt einer jüdischen
Verschwörung, womit N. durchaus eine antisemitische Muster-Erwartung be-
dient. Jedenfalls habe - so schließt GM I 8 ohne letzte Antworten auf die rheto-
rischen Fragen - das Judentum mit seiner „Umwerthung aller Werthe" (269,
19 f.) triumphiert - und zwar „über alle vornehmeren Ideale" (269, 20 f.). In
der „Psychologie des Erlösers" in AC 28 bis 36 (KSA 6, 198-208) wird N. im
darauffolgenden Jahr Jesus aus der jüdisch-christlichen Unheilsgeschichte he-
rauspräparieren und gegen seine kirchliche Deutung in Schutz nehmen. In
AC 42 wird dann Paulus mit seiner Christus-Interpretation zum Fortsetzer und
moralgeschichtlich verheerenden Überbieter des Judentums, während er in der
Skizze der Moralgeschichte von Juden- und Christentum in GM I nur kurz in
Abschnitt 16 (287, 8) gestreift wird.
8.
Während GM I 7 zu Beginn von den fiktiven Lesern in dritter Person als „man"
spricht (266, 17), adressiert GM I 8 die geihrzten statt gesiezten Leser direkt
und unterstellt ihnen, „keine Augen" (268, 7) für das offenkundig Zu-Tage-
Liegende zu haben, nämlich für den am Ende von GM I 7 namhaft gemachten
Umstand, dass der vor 2000 Jahren erfolgte Sklavenaufstand in der Moral er-
folgreich und bis heute „siegreich gewesen ist" (268, 5). Dieses Übersehen-Kön-
nen des Offenkundigen erklärt GM I 8 damit, dass es dem Judentum gelungen
sei, zu verschleiern, dass das Christentum ganz das Produkt seines Hasses ist.
Jesus von Nazareth wird in Übereinstimmung sowohl mit der christlichen Über-
lieferung als auch mit Autoren wie Renan zwar als „das leibhafte Evangelium
der Liebe" (268, 28) verstanden; diese Liebe ist aber nicht der Gegensatz, son-
dern die eigentliche Konsequenz des „jüdischen Hasses" (268, 29) - und zwar
nicht im Sinne einer dialektischen Überwindung, sondern als Mittel, die nicht-
jüdische Welt zu den „jüdischen Werthen" (268, 32) zu verführen: Mit offen-
kundigem Hass wäre die nichtjüdische Welt nicht zu überzeugen und zu über-
winden gewesen, mit Liebe hingegen schon. Gerade der Umstand, dass die
Juden Jesus scheinbar als Hassobjekt der Hinrichtung ausgeliefert haben, er-
scheint - wenigstens in einer rhetorischen oder „hypothetischen Frage" (Steg-
maier 1994, 115) - als überaus kluges Mittel der Selbstermächtigung: Habe „Is-
rael" nicht „selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie
etwas Todfeindliches verleugnen und an's Kreuz schlagen" müssen, „damit
,alle Welt', nämlich alle Gegner Israel's unbedenklich gerade an diesem Köder
anbeissen konnten" (269, 7-10)? Der Kreuzestod Jesu wäre dann nicht wie in
der christlich-kirchlichen Lehre der Preis in der Heilsökonomie Gottes - näm-
lich durch den Sühnetod seines Todes die Menschheit zu erlösen -, sondern
der Preis in der Machtökonomie der Juden, die militärisch-politisch auf keinen
grünen Zweig haben kommen können, also quasi das Produkt einer jüdischen
Verschwörung, womit N. durchaus eine antisemitische Muster-Erwartung be-
dient. Jedenfalls habe - so schließt GM I 8 ohne letzte Antworten auf die rheto-
rischen Fragen - das Judentum mit seiner „Umwerthung aller Werthe" (269,
19 f.) triumphiert - und zwar „über alle vornehmeren Ideale" (269, 20 f.). In
der „Psychologie des Erlösers" in AC 28 bis 36 (KSA 6, 198-208) wird N. im
darauffolgenden Jahr Jesus aus der jüdisch-christlichen Unheilsgeschichte he-
rauspräparieren und gegen seine kirchliche Deutung in Schutz nehmen. In
AC 42 wird dann Paulus mit seiner Christus-Interpretation zum Fortsetzer und
moralgeschichtlich verheerenden Überbieter des Judentums, während er in der
Skizze der Moralgeschichte von Juden- und Christentum in GM I nur kurz in
Abschnitt 16 (287, 8) gestreift wird.