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Stellenkommentar GM I 10, KSA 5, S. 272-273 159

Affektausdruck nach erlittenem Ungemach in der griechischen Ethik gebilligt
werde - Beispiel Achill -, habe man die verzögerte Rache hingegen nicht gebil-
ligt - wiederum Beispiel Achill. „Hiermit im Einklänge galt das im Gedächtniss
bewahren des Schlimmen oder, wie wir das griechische Verbum wohl wieder-
geben können, das Nachtragen - pvrptKaKEiv - als unedel, das Vermeiden
desselben als Frucht wahrer Bildung." (Ebd., 316) Die Wendung „nicht nach-
zutragen geneigt" aus dem Exzerpt NL 1883, KSA 10, 7[22], 247, 25 ist einem
Aristoteles-Zitat entnommen, das bei Schmidt 1882b, 2, 317 wie folgt lautet: „Zu
den Zügen, mit denen Aristoteles im vierten Buche der nikomachischen Ethik
den Hochherzigen ausstattet, gehört der, dass er ,nicht nachzutragen ge-
neigt' - ov pvrioiKaKog - ist (1125 a 3)". Den psychologischen Mechanismus,
dass die unmittelbare Abreaktion eines Rachegedankens dessen Verschwinden
herbeiführt, während ein nicht ausgeführter Rachegedanke zu einem „chroni-
sche[n] Leiden", einer „Vergiftung an Leib und Seele"" führt, bringt auch schon
MA I 60, KSA 2, 77, 26 f. in derselben toxikologischen Metaphorik zum Aus-
druck, die GM I 10 dafür benutzt.
273, 20 f. plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender
Kraft] In UB II HL 1, KSA 1, 251, 4-8 wird die Frage gestellt, „wie gross die
plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine
jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes
umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen,
zerbrochene Formen aus sich nachzuformen". UB II HL 10, KSA 1, 329, 24-26
konstatiert dann: „Das Uebermaass von Historie hat die plastische Kraft des
Lebens angegriffen". Danach verschwindet die prominent herausgestellte
Wendung bei N., um erst wieder in NL 1883, KSA 10, 8[15], 336, 17 zur Kenn-
zeichnung des für die Griechen typischen Umgangs mit Schmerz sowie in
NL 1883, KSA 10, 7[253], 320, 10 im Blick auf Charakterstärke aufzutauchen,
bis sie schließlich in GM I 10 Eingang findet. Während Koecke 1994, 46, Fn. 164
Kant als mögliche Quelle ins Spiel bringt, weisen Meyer 1998, 98 Fn. 19 und
Regent 2008, 646 f. darauf hin, dass N. sich diese Begrifflichkeit bei Jacob
Burckhardt angeeignet habe, wofür auch die in KGW III 5/1, 428 mitgeteilte
„Vorstufe" zu UB II HL 1 hindeutet: „Jacob Burkh. verruchte Menschen plasti-
sche Kraft." Burckhardt benutzte die Wendung nur zwei Mal in der Cultur der
Renaissance in Italien und an einer Stelle mit einer gewissen Emphase: „End-
lich aber zeigen die geistig Mächtigen, die Träger der Renaissance in religiöser
Beziehung eine häufige Eigenschaft jugendlicher Naturen: sie unterscheiden
recht scharf zwischen gut und böse, aber sie kennen keine Sünde; jede Störung
der innern Harmonie getrauen sie sich vermöge ihrer plastischen Kraft wieder-
herzustellen und kennen deßhalb keine Reue; da verblaßt denn auch das Be-
dürfniß der Erlösung, während zugleich vor dem Ehrgeiz und der /397/ Geistes-
 
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