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180 Zur Genealogie der Moral

es tun; nur wer schwach ist, denke sich eine Moral des Verzichtenkönnens
aus: Er erfinde das „indifferente wahlfreie ,Subjekt'" (280, 32), das man auch
„Seele" (281, 1) heiße und lege „die Schwäche selbst als Freiheit" aus (281,
4 f.).
Bei aller suggestiven Kraft, die die Eingangserzählung entfaltet, ist die ar-
gumentative Disparität von GM I 13 nicht zu übersehen: Zunächst werden Stär-
ke und Schwäche in dieser Erzählung anhand unterschiedlicher Tierarten na-
turalisiert, aber zugleich an „Raubvögel" und „Lämmer" gebunden. Dann wird
behauptet, Stärke sei etwas irgendwie Absolutes, das sich nur als Stärke mani-
festieren könne. Großzügig wird dabei ausgeklammert, dass Stärke und Schwä-
che nur als relationale Begriffe sinnvoll gedacht werden können. Stattdessen
wird die Unumpolbarkeit der Stärke betont und Sprachkritik geübt, um den
Täter hinter dem Tun zum Verschwinden zu bringen und nur noch das Tun als
Wirklichkeit gelten zu lassen, den Täter hingegen als Sprachfiktion zu entlar-
ven. Nimmt man das ernst, würde man eine Ontologie ohne Subjekte, nur noch
mit (Energie-)Ereignissen annehmen müssen. Das kann man zwar tun, müsste
dann aber auch die Raubvögel und Lämmer als Substrate von Stärke und
Schwäche über Ockhams Klinge springen lassen: Es gäbe sie nicht, sie wären
nur narrative Ausschmückungen eines subjektlosen Geschehens. Jede Hierar-
chie von starken und schwachen Individuen wäre aufgehoben. Falls es zudem
so wäre, dass es nur Tun gibt, aber keine Täter, stünden auch hinter den „Af-
fekte[n] Rache und Hass" (280, 6) keine Individuen mehr, die affiziert werden,
sondern es würde sich auch hier nur um ein subjektloses energetisches Gesche-
hen handeln. Nimmt man schließlich weiter an, dass nichts (und niemand)
die Stärke daran zu hindern vermag, Stärke zu sein, dann wäre es auch völlig
gleichgültig, wenn irgendwo Vorstellungen von handelnden Subjekten, frei
wählenden Seelen und dergleichen ausgebrütet werden. Denn die Stärke kann
ja nicht aufhören, Stärke zu sein - und dann wäre auch die ganze Empörung
über die Depotenzierung der Stärke (eigentlich ja: der Starken) in GM I völlig
gegenstandslos. Mit einer Ontologie der Subjektlosigkeit und Unaufhebbarkeit
der Stärke entzieht sich die stete Kritik an der sklavenmoralischen Umwertung
ihre eigene Geschäftsgrundlage: Nur wenn die Stärke gebrochen werden kann,
nämlich durch Moral, wäre diese Kritik realitätsgesättigt und nicht eine bloße
Fiktion. Gesetzt aber, dass die Stärke gebrochen werden kann - womöglich
durch das, was „Schwäche" heißt -, wäre sie keine Stärke, sondern Schwä-
che - und die Schwäche, die listig ist - nicht wie ein Raubvogel, sondern wie
ein Fuchs -, wäre die wahre Stärke. Eine benevolente Interpretation von
GM I 13 wird darauf abheben, dass sich hier die scheinbar so brachiale Ideolo-
gie von Stärke und Schwäche selbst und bewusst ad absurdum führe, indem
sie ihre Inkonsistenzen schonungslos ans Licht zerre.
 
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