182 Zur Genealogie der Moral
geln sei womöglich inspiriert von Werke und Tage, Verse 202-212, wo es zwar
nicht um Adler und Lamm, sondern um Habicht (walhlweise: Falke) und Nach-
tigall geht, der Raubvogel mit ihr aber über das (vermeintliche, von Hesiod
verworfene) Recht des Stärkeren spricht. In der unter N.s Büchern erhaltenen
Hesiod-Übersetzung von Karl Uschner lautet die fragliche Passage: „Jetzt er-
zähl' ich den Fürsten, die wohl es verstehen, ein Märchen, / Sprach zu der
Nachtigall mit schillerndem Halse der Falke, / Als er, gepackt mit den Krallen,
sie hoch in den Wolken einhertrug. / Sie nun jammerte kläglich, zerfetzt von
den hakigen Krallen, / Er sprach aber zu ihr mit oberherrlichem Trotze: / Wa-
rum schreist du, o Thörin? Ein Stärkerer hält dich gefangen. / Dahin gehst du,
wohin ich dich führ', obgleich du ein Sänger. / Wenn ich will, so verspeis' ich
zum Mahle dich oder entlass' dich. / Sinnlos, wer sich erkühnt, sich genüber-
zustellen dem Stärkern; / Stets entgeht ihm der Sieg und der Schande gesellt
sich ihm Leid noch. / So der hurtige Falk', der breitgeflügelte Vogel" (Hesiod
1865, 65 f.).
Zum Lamm, „welches seit einigen Jahrhunderten das Lieblingssymbol
Christi gewesen war", hat sich N. ausweislich seiner Anstreichungen bei Lecky
1873, 1, 186 kundig gemacht. Die Travestie des fiktiven Raubtier-Lämmer-Dia-
logs von GM I 13 hat 1957 Hans Magnus Enzensberger im titelgebenden Gedicht
verteidigung der wölfe gegen die lämmer seines ersten Lyrikbandes unternom-
men: „soll der geier vergißmeinnicht fressen? / was verlangt ihr vom schakal, /
daß er sich häute, vom wolf? soll / er sich selber ziehen die zähne? [...] ihr
lämmer, schwestern sind, / mit euch verglichen, die krähen: / ihr blendet einer
den andern. / brüderlichkeit herrscht / unter den wölfen: / sie gehn in rudeln"
(Enzensberger 1957, 91).
279, 9-14 Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere,
dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwer-
den-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist
gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke
äussere.] Dieser Passus, der sich quasi als Lehre unmittelbar an die Raubvögel-
Lämmer-Fabel anschließt, zehrt von der Suggestion, dass Stärke und Schwä-
che (ebenso wie später „Kraft" - 279, 14) absolute Begriffe seien, dass es also
Stärke an sich und Schwäche an sich gebe. Diese Suggestion erscheint bei nä-
herem Hinsehen wenig plausibel; vielmehr handelt es sich bei Stärke und
Schwäche um relationale Begriffe: Etwas ist stark oder schwach im Vergleich
mit etwas anderem: Ein Raubvogel ist stark im Vergleich mit dem Lamm, aber
schwach im Vergleich mit einem Wirbelsturm. Mit der Absolutsetzung von Stär-
ke und Schwäche erliegt die Argumentation selbst der gleich im Folgenden
angeprangerten „Verführung der Sprache" (279, 17): Ein Sprachfetisch steht am
Anfang der Kritik an Sprachfetischen.
geln sei womöglich inspiriert von Werke und Tage, Verse 202-212, wo es zwar
nicht um Adler und Lamm, sondern um Habicht (walhlweise: Falke) und Nach-
tigall geht, der Raubvogel mit ihr aber über das (vermeintliche, von Hesiod
verworfene) Recht des Stärkeren spricht. In der unter N.s Büchern erhaltenen
Hesiod-Übersetzung von Karl Uschner lautet die fragliche Passage: „Jetzt er-
zähl' ich den Fürsten, die wohl es verstehen, ein Märchen, / Sprach zu der
Nachtigall mit schillerndem Halse der Falke, / Als er, gepackt mit den Krallen,
sie hoch in den Wolken einhertrug. / Sie nun jammerte kläglich, zerfetzt von
den hakigen Krallen, / Er sprach aber zu ihr mit oberherrlichem Trotze: / Wa-
rum schreist du, o Thörin? Ein Stärkerer hält dich gefangen. / Dahin gehst du,
wohin ich dich führ', obgleich du ein Sänger. / Wenn ich will, so verspeis' ich
zum Mahle dich oder entlass' dich. / Sinnlos, wer sich erkühnt, sich genüber-
zustellen dem Stärkern; / Stets entgeht ihm der Sieg und der Schande gesellt
sich ihm Leid noch. / So der hurtige Falk', der breitgeflügelte Vogel" (Hesiod
1865, 65 f.).
Zum Lamm, „welches seit einigen Jahrhunderten das Lieblingssymbol
Christi gewesen war", hat sich N. ausweislich seiner Anstreichungen bei Lecky
1873, 1, 186 kundig gemacht. Die Travestie des fiktiven Raubtier-Lämmer-Dia-
logs von GM I 13 hat 1957 Hans Magnus Enzensberger im titelgebenden Gedicht
verteidigung der wölfe gegen die lämmer seines ersten Lyrikbandes unternom-
men: „soll der geier vergißmeinnicht fressen? / was verlangt ihr vom schakal, /
daß er sich häute, vom wolf? soll / er sich selber ziehen die zähne? [...] ihr
lämmer, schwestern sind, / mit euch verglichen, die krähen: / ihr blendet einer
den andern. / brüderlichkeit herrscht / unter den wölfen: / sie gehn in rudeln"
(Enzensberger 1957, 91).
279, 9-14 Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere,
dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwer-
den-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist
gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke
äussere.] Dieser Passus, der sich quasi als Lehre unmittelbar an die Raubvögel-
Lämmer-Fabel anschließt, zehrt von der Suggestion, dass Stärke und Schwä-
che (ebenso wie später „Kraft" - 279, 14) absolute Begriffe seien, dass es also
Stärke an sich und Schwäche an sich gebe. Diese Suggestion erscheint bei nä-
herem Hinsehen wenig plausibel; vielmehr handelt es sich bei Stärke und
Schwäche um relationale Begriffe: Etwas ist stark oder schwach im Vergleich
mit etwas anderem: Ein Raubvogel ist stark im Vergleich mit dem Lamm, aber
schwach im Vergleich mit einem Wirbelsturm. Mit der Absolutsetzung von Stär-
ke und Schwäche erliegt die Argumentation selbst der gleich im Folgenden
angeprangerten „Verführung der Sprache" (279, 17): Ein Sprachfetisch steht am
Anfang der Kritik an Sprachfetischen.