Stellenkommentar GM I 13, KSA 5, S. 280 189
280, 4 insgleichen das Kantische „Ding an sich"] N. stellte wiederholt den Ver-
such an, die Inkonsistenz von Kants Begriff des „Ding an sich" nachzuweisen,
vgl. z. B. NK KSA 5, 16, 12 f.; NK KSA 5, 29, 24-28 und NK KSA 6, 130, 1-3. Dies
geschieht im Einklang mit Autoren wie Schmitz-Dumont 1881, 162, der betonte,
„dass das ,Ding an sich' ein widerspruchsvoller Begriff ist, weil nur dadurch
ein Etwas zum Ding wird, dass es für ein Anderes da ist." Unter der sehr
beschränkten Kant-Sekundärliteratur in N.s Bibliothek befand sich auch die
Dissertation Kant's Lehre vom Ding an sich von Rudolf Lehmann (1878). Zu 280,
4 vgl. Riccardi 2010, 348.
280, 4-11 was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affek-
te Rache und Hass diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar kei-
nen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den, es stehe dem Starken
frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein: — damit gewinnen sie ja bei
sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein...] Wurden
eben noch sprachlich induzierte anthropomorphe Subjektivierungen kritisiert,
die Kraft oder Atome zu handelnden Subjekten erklären, werden nun die „Af-
fekte Rache und Hass" selbst nicht nur zu solchen handelnden Subjekten er-
nannt, die etwas tun (wie „die Kraft bewegt"), sondern auch zu reflektierenden
Subjekten, die gezielt etwas „für sich ausnützen" - nämlich einen „Glauben",
der mit dem Demonstrativpronomen „diesem" so markiert ist, als ob von ihm
schon die Rede gewesen wäre. Dies ist aber nicht der Fall - der „Glaube" wird
erst nachfolgend erläutert, nämlich als Auffassung, der „Starke" hätte die Frei-
heit, auch schwach zu sein. Angesichts des in GM I 13 bis dahin Behaupteten
verursacht 280, 4-11 erhebliche Systematisierungsschwierigkeiten: Die erste
Variante der Kritik besagte, es sei überflüssig, zum Tun einen Täter hinzuden-
ken; die zweite Variante, die dasselbe zu illustrieren schien, aber tatsächlich
ein völlig anderes Argument vorbrachte, besagte, man - offenbar der Mensch -
habe die Tendenz, Abstrakta wie Subjekte zu behandeln (vgl. NK 279, 32-280,
3). Die dritte Variante in 280, 4-11 verkehrt Variante 2 ins Gegenteil, indem
sie „Rache und Hass" gerade zu handelnden Subjekten macht, und überdreht
zugleich Variante 1, indem sie Menschen als handelnde Subjekte zum Ver-
schwinden bringt und sie stattdessen zu reinen Spielbällen anonymer „Affek-
te" macht. Wer den „Glauben" hat, den „Rache und Hass" anscheinend so
listig zu erzeugen verstehen, bleibt im Dunkeln. Die Affekte selbst werden es
doch wohl nicht sein, sondern menschliche Wesen, die an den unsichtbaren
Marionettenfäden ihrer Affekte hängen?
Moralgeschichtlich ist der interessante Punkt hier, dass die Sklavenmoral
nicht einfach nur die vornehmen Wertungsweisen umkehrt, also das bislang
Gute für böse und das bislang Schlechte für gut erklärt, sondern überhaupt erst
die Möglichkeit eines Anders-(Sein-)Könnens behauptet, die in der vornehmen
280, 4 insgleichen das Kantische „Ding an sich"] N. stellte wiederholt den Ver-
such an, die Inkonsistenz von Kants Begriff des „Ding an sich" nachzuweisen,
vgl. z. B. NK KSA 5, 16, 12 f.; NK KSA 5, 29, 24-28 und NK KSA 6, 130, 1-3. Dies
geschieht im Einklang mit Autoren wie Schmitz-Dumont 1881, 162, der betonte,
„dass das ,Ding an sich' ein widerspruchsvoller Begriff ist, weil nur dadurch
ein Etwas zum Ding wird, dass es für ein Anderes da ist." Unter der sehr
beschränkten Kant-Sekundärliteratur in N.s Bibliothek befand sich auch die
Dissertation Kant's Lehre vom Ding an sich von Rudolf Lehmann (1878). Zu 280,
4 vgl. Riccardi 2010, 348.
280, 4-11 was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affek-
te Rache und Hass diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar kei-
nen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den, es stehe dem Starken
frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein: — damit gewinnen sie ja bei
sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein...] Wurden
eben noch sprachlich induzierte anthropomorphe Subjektivierungen kritisiert,
die Kraft oder Atome zu handelnden Subjekten erklären, werden nun die „Af-
fekte Rache und Hass" selbst nicht nur zu solchen handelnden Subjekten er-
nannt, die etwas tun (wie „die Kraft bewegt"), sondern auch zu reflektierenden
Subjekten, die gezielt etwas „für sich ausnützen" - nämlich einen „Glauben",
der mit dem Demonstrativpronomen „diesem" so markiert ist, als ob von ihm
schon die Rede gewesen wäre. Dies ist aber nicht der Fall - der „Glaube" wird
erst nachfolgend erläutert, nämlich als Auffassung, der „Starke" hätte die Frei-
heit, auch schwach zu sein. Angesichts des in GM I 13 bis dahin Behaupteten
verursacht 280, 4-11 erhebliche Systematisierungsschwierigkeiten: Die erste
Variante der Kritik besagte, es sei überflüssig, zum Tun einen Täter hinzuden-
ken; die zweite Variante, die dasselbe zu illustrieren schien, aber tatsächlich
ein völlig anderes Argument vorbrachte, besagte, man - offenbar der Mensch -
habe die Tendenz, Abstrakta wie Subjekte zu behandeln (vgl. NK 279, 32-280,
3). Die dritte Variante in 280, 4-11 verkehrt Variante 2 ins Gegenteil, indem
sie „Rache und Hass" gerade zu handelnden Subjekten macht, und überdreht
zugleich Variante 1, indem sie Menschen als handelnde Subjekte zum Ver-
schwinden bringt und sie stattdessen zu reinen Spielbällen anonymer „Affek-
te" macht. Wer den „Glauben" hat, den „Rache und Hass" anscheinend so
listig zu erzeugen verstehen, bleibt im Dunkeln. Die Affekte selbst werden es
doch wohl nicht sein, sondern menschliche Wesen, die an den unsichtbaren
Marionettenfäden ihrer Affekte hängen?
Moralgeschichtlich ist der interessante Punkt hier, dass die Sklavenmoral
nicht einfach nur die vornehmen Wertungsweisen umkehrt, also das bislang
Gute für böse und das bislang Schlechte für gut erklärt, sondern überhaupt erst
die Möglichkeit eines Anders-(Sein-)Könnens behauptet, die in der vornehmen