190 Zur Genealogie der Moral
Moral offensichtlich nicht angelegt war. Diese Behauptung, dass es zu den
sklavenmoralischen Innovationen gehört, die Freiheit des Willens (als Freiheit,
auch das zu wollen, was man aus innerer Veranlagung heraus eigentlich nicht
will) zu postulieren (vgl. NK 280, 31-34), ist suggestiv so eingeführt, dass der
Eindruck entsteht, nur die Schwachen könnten an einem freien Willen Interes-
se haben, während die Starken einfach immer nur tun, was ihrer Natur gemäß
ist. So suggestiv diese Behauptung auch ist, so wenig plausibel wirkt sie doch,
es sei denn, man meine, die gesamte ethische Reflexion der griechischen Philo-
sophie sei schon sklavenmoralisch kontaminiert. Denn diese Reflexion lebt we-
sentlich davon, dass ein Anders-(Sein-)Können grundsätzlich möglich ist. Tat-
sächlich findet sich in anderen Texten N.s durchaus die Neigung, die Philoso-
phie seit Sokrates unter sklavenmoralischen Generalverdacht zu stellen (vgl.
NK 6/1, S. 259-285). Im Christentum hingegen, das GM mit der Sklavenmoral
eng liiert, gibt es von Paulus über Augustinus bis Luther eine sehr starke Ten-
denz, dem Menschen wegen seiner Sündenverfallenheit die Freiheit des Wil-
lens abzusprechen. „Non posse non peccare", „nicht nicht sündigen können",
lautet dafür die eingängige Formel (Augustinus: De natura et gratia 49). Mit
dem Globalverdacht gegen die Konzeption eines freien Willens, er sei bloß zur
Delegitimierung der als „böse" verteufelten Vornehmen erfunden worden, gibt
der in GM I 13 Sprechende fast die gesamte abendländische moralphilosophi-
sche Tradition preis - und er tut dies mit Bosheit und Leidenschaft. Migotti
2006, 112 argumentiert, nach GM I 13 sei das wichtigste Ergebnis der Sklaven-
moral die Einführung eines neuen Wertetyps, nämlich des Wertes der Unpar-
teilichkeit („impartial value"): „Slave morality is the morality of impartial va-
lue in that it is the morality of value chosen by an (allegedly) impartial subject,
one who is in himself neither master nor slave but can freely choose to behave
and to evaluate either as the one or as the other." Indes bleiben nach GM I 13
die Erfinder und Anhänger der Sklavenmoral doch parteilich, weil sie die Frei-
heit des Anders-(Sein-)Könnens ja nur geltend machen, um das Tun der Vor-
nehmen zu delegitimieren. Die Unparteilichkeit, von der Migotti spricht, ist in
GM I 13 also nur vorgeschoben. Das harte Fundament der Kritik in GM I 13 ist
die Prämisse einer grundsätzlichen, unaufhebbaren Ungleichheit der Men-
schen.
280, ll f. die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüch-
tigen List der Ohnmacht] Die Erfinder der Ressentiment-Moral sind offenkundig
auch aus Sicht des sprechenden „Ich" tatsächlich die Opfer der Herren-Ge-
walt - sie sind nicht bloß imaginierte Opfer. Dann aber wird ihnen niemand
verargen können, dass sie auf - welt- und moralgeschichtlich nach der Diagno-
se der Sprecherinstanz höchst wirkungsvolle - Abhilfe sinnen und das Joch
abschütteln wollen. An der Erfindung der „Sklaven-Moral" sind die Herren also
Moral offensichtlich nicht angelegt war. Diese Behauptung, dass es zu den
sklavenmoralischen Innovationen gehört, die Freiheit des Willens (als Freiheit,
auch das zu wollen, was man aus innerer Veranlagung heraus eigentlich nicht
will) zu postulieren (vgl. NK 280, 31-34), ist suggestiv so eingeführt, dass der
Eindruck entsteht, nur die Schwachen könnten an einem freien Willen Interes-
se haben, während die Starken einfach immer nur tun, was ihrer Natur gemäß
ist. So suggestiv diese Behauptung auch ist, so wenig plausibel wirkt sie doch,
es sei denn, man meine, die gesamte ethische Reflexion der griechischen Philo-
sophie sei schon sklavenmoralisch kontaminiert. Denn diese Reflexion lebt we-
sentlich davon, dass ein Anders-(Sein-)Können grundsätzlich möglich ist. Tat-
sächlich findet sich in anderen Texten N.s durchaus die Neigung, die Philoso-
phie seit Sokrates unter sklavenmoralischen Generalverdacht zu stellen (vgl.
NK 6/1, S. 259-285). Im Christentum hingegen, das GM mit der Sklavenmoral
eng liiert, gibt es von Paulus über Augustinus bis Luther eine sehr starke Ten-
denz, dem Menschen wegen seiner Sündenverfallenheit die Freiheit des Wil-
lens abzusprechen. „Non posse non peccare", „nicht nicht sündigen können",
lautet dafür die eingängige Formel (Augustinus: De natura et gratia 49). Mit
dem Globalverdacht gegen die Konzeption eines freien Willens, er sei bloß zur
Delegitimierung der als „böse" verteufelten Vornehmen erfunden worden, gibt
der in GM I 13 Sprechende fast die gesamte abendländische moralphilosophi-
sche Tradition preis - und er tut dies mit Bosheit und Leidenschaft. Migotti
2006, 112 argumentiert, nach GM I 13 sei das wichtigste Ergebnis der Sklaven-
moral die Einführung eines neuen Wertetyps, nämlich des Wertes der Unpar-
teilichkeit („impartial value"): „Slave morality is the morality of impartial va-
lue in that it is the morality of value chosen by an (allegedly) impartial subject,
one who is in himself neither master nor slave but can freely choose to behave
and to evaluate either as the one or as the other." Indes bleiben nach GM I 13
die Erfinder und Anhänger der Sklavenmoral doch parteilich, weil sie die Frei-
heit des Anders-(Sein-)Könnens ja nur geltend machen, um das Tun der Vor-
nehmen zu delegitimieren. Die Unparteilichkeit, von der Migotti spricht, ist in
GM I 13 also nur vorgeschoben. Das harte Fundament der Kritik in GM I 13 ist
die Prämisse einer grundsätzlichen, unaufhebbaren Ungleichheit der Men-
schen.
280, ll f. die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüch-
tigen List der Ohnmacht] Die Erfinder der Ressentiment-Moral sind offenkundig
auch aus Sicht des sprechenden „Ich" tatsächlich die Opfer der Herren-Ge-
walt - sie sind nicht bloß imaginierte Opfer. Dann aber wird ihnen niemand
verargen können, dass sie auf - welt- und moralgeschichtlich nach der Diagno-
se der Sprecherinstanz höchst wirkungsvolle - Abhilfe sinnen und das Joch
abschütteln wollen. An der Erfindung der „Sklaven-Moral" sind die Herren also