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Stellenkommentar GM I 13, KSA 5, S. 280 191

unmittelbar selber schuld. Ohne Unterdrückung gäbe es keine „Sklaven-Mo-
ral". Wäre es nicht denkbar - was das Sprecher-„Ich" zu denken sich weigert -,
dass mit der Aufhebung des Herren- und Sklaven-Gegensatzes unter den libe-
ralen und demokratischen Bedingungen der Moderne auch die Sklavenmoral,
das Christentum als Moralgefüge, sich allmählich auflöst?
280, 13-18 „lasst uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist Jeder,
der nicht vergewaltigt, der Niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht ver-
gilt, der die Rache Gott übergiebt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der allem
Bösen aus dem Wege geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns
den Geduldigen, Demüthigen, Gerechten"] Die den „Unterdrückten, Niedergetre-
tenen, Vergewaltigten" (280, 11 f.) in den Mund gelegten Worte variieren christ-
liche Losungen, wie sie etwa in Matthäus 5, 38-48 und Lukas 6, 27-38 anklin-
gen, bezeichnenderweise aber unter Ausklammerung der dort von Jesus gerade
geforderten Feindesliebe (vgl. NK 273, 26-33). Auch beschreibt sich das unter-
drückte „Wir" von 280, 13-18 nur als solches, das dem „Bösen" aus dem Wege
geht. Jesu Anweisung aus Matthäus 5, 39, die in AC als das „tiefste Wort der
Evangelien" gekennzeichnet wird (vgl. NK KSA 6, 200, 1-3), nämlich: „wider-
stehe nicht dem Bösen", wird ersatzlos gestrichen - die Sklavenmoral ist keine
Maximalmoral des Selbstverzichtes. Stattdessen stehen die moderateren Ver-
haltensanweisungen, die Paulus in Römer 12, 14-19 gibt, hier im Hintergrund,
die nicht verlangen, man solle Böses mit Gutem, sondern nur, man solle Böses
nicht mit Bösem vergelten (Römer 12, 17): „Rächet euch selber nicht, meine
Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn [Gottes]; denn es stehet geschrieben:
,Die Rache ist mein; Ich will vergelten, spricht der Herr."' (Römer 12, 19. Die
Bibel: Neues Testament 1818, 193, vgl. Deuteronomium 32, 35) Das Gebot des
Nichtverletzens ist Schopenhauer zufolge der „Grundsatz, über dessen In-
halt alle Ethiker eigentlich einig sind, in so verschiedene Formen sie ihn auch
kleiden, gleich hier auf den Ausdruck zurückführen, den ich für den allerein-
fachsten und reinsten halte: neminem laede" (Schopenhauer 1873-1874, 4/2,
137). Diesen Passus hat N. in NL 1884, KSA 11, 26[85], 171, 19-172, 24 exzerpiert
und moralkritisch glossiert: „neminem laede warum nicht? / neminem enthält
eine Gleichsetzung aller Menschen: da aber die Menschen nicht gleich sind, so
ist hierin eine Forderung enthalten, sie als gleich zu setzen. Also: ,behand-
le jeden Menschen als Deinesgleichen' ist Hintergrund dieser Moral". Diese
Aufzeichnung wird dann in JGB 186 verwendet, wo jedoch der Aspekt der egali-
sierenden Wirkung der Nichtverletzungsmoral zurücktritt, vgl. NK KSA 5, 106,
24-107, 11. Diesen Punkt, dass also das Gebot, niemanden zu verletzen als we-
sentlicher Bestandteil der Selbstbehauptungsanstrengung der Unterdrückten
fungiert und darauf abzielt, die Starken den Schwachen anzugleichen, macht
GM I 13 wiederum stark.
 
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