202 Zur Genealogie der Moral
tralen religiösen Tugenden - „diese drey; aber die Liebe ist die größeste unter
ihnen" (1. Korinther 13, 13. Die Bibel: Neues Testament 1818, 209, vgl. auch
1. Thessalonicher 1, 3).
15.
Der Eingangssatz von GM I 15 greift mit der Evokation der christlichen Kardi-
naltugenden nach 1. Korinther 13, 13 auf den Schluss des vorangegangenen
Abschnitts zurück und überbrückt damit die Kluft, die zwischen den beiden
ganz unterschiedlich gearteten Texten klafft: War GM I 14 ein mythologisieren-
der Dialog, so bietet GM I 15 eine Sammlung von Quellenauszügen, die nur
ein Ziel hat, nämlich zu belegen, dass die Jenseitsvorstellung der Christen, ihr
Himmelreich, nicht auf ruhigen, ungestörten Genuss der Seligkeit abzielt, son-
dern darauf, sich am Leiden der verdammten Starken und Vornehmen zu ergöt-
zen: Sie wünschen ihnen die Hölle an den Hals, während sie doch selber Unter-
weltswesen sind. Die drei namentlich genannten Quellen sind Dante, Thomas
von Aquin und Tertullian, wobei bei der bekanntesten, der Divina Commedia,
noch drastisches Verkürzen und Umschreiben nötig ist, um sie auf Linie zu
bringen (vgl. NK 283, 28-284, 3). Bei Thomas ist das Zitat apokryph (vgl.
NK 284, 4-10), nur der über anderthalb Seiten lateinisch zitierte Tertullian ist
zweifellos echt (vgl. NK 284, 10-285, 22). Indes: Wie wäre es methodisch zu
rechtfertigen, aus drei Zitaten, von denen nur das eine als authentisch durch-
geht, einen Schluss auf das Christentum in seiner Gesamtheit, seiner immen-
sen historischen und geographischen Ausdehnung zu ziehen? Kriterien der
Ausgewogenheit des Urteils will GM I 15 sicher nicht genügen, sondern eher
die These beliebt machen, dass das Christentum an seinen Extremen zu erken-
nen sei, weil es sich ansonsten (z. B. unter dem Deckmantel der Liebe) überaus
erfolgreich camoufliert und seine wahren Absichten verbirgt. Dass die beiden
lateinischen Quellen im Original statt in deutscher Übersetzung präsentiert
werden, suggeriert dokumentarische Nähe und wissenschaftliche Gelehrsam-
keit, bürdet aber zugleich dem Leser eine erhebliche Eigenanstrengung auf, da
er die lange Passage selbst übersetzen muss: Voraussetzung von Lateinkennt-
nissen im Dienste der Leserselektion.
Die wissenschaftliche Gelehrsamkeit - noch potenziert durch eingefügte
Sperrungen und die kommentierenden Anmerkungen in der Tertullian-Passa-
ge - ist freilich nur eine scheinbare: Der Leser soll denken, N. habe sich in die
Lektüre der originalen Texte vertieft, schöpfe aus tiefer Bildung, während er
sich doch in Wahrheit nur in James Anthony Froudes Das Leben Thomas Carly-
les sowie Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufldärung in Eu-
ropa bedient hat - und bei den gelehrten Glossen seines Freundes Overbeck.
tralen religiösen Tugenden - „diese drey; aber die Liebe ist die größeste unter
ihnen" (1. Korinther 13, 13. Die Bibel: Neues Testament 1818, 209, vgl. auch
1. Thessalonicher 1, 3).
15.
Der Eingangssatz von GM I 15 greift mit der Evokation der christlichen Kardi-
naltugenden nach 1. Korinther 13, 13 auf den Schluss des vorangegangenen
Abschnitts zurück und überbrückt damit die Kluft, die zwischen den beiden
ganz unterschiedlich gearteten Texten klafft: War GM I 14 ein mythologisieren-
der Dialog, so bietet GM I 15 eine Sammlung von Quellenauszügen, die nur
ein Ziel hat, nämlich zu belegen, dass die Jenseitsvorstellung der Christen, ihr
Himmelreich, nicht auf ruhigen, ungestörten Genuss der Seligkeit abzielt, son-
dern darauf, sich am Leiden der verdammten Starken und Vornehmen zu ergöt-
zen: Sie wünschen ihnen die Hölle an den Hals, während sie doch selber Unter-
weltswesen sind. Die drei namentlich genannten Quellen sind Dante, Thomas
von Aquin und Tertullian, wobei bei der bekanntesten, der Divina Commedia,
noch drastisches Verkürzen und Umschreiben nötig ist, um sie auf Linie zu
bringen (vgl. NK 283, 28-284, 3). Bei Thomas ist das Zitat apokryph (vgl.
NK 284, 4-10), nur der über anderthalb Seiten lateinisch zitierte Tertullian ist
zweifellos echt (vgl. NK 284, 10-285, 22). Indes: Wie wäre es methodisch zu
rechtfertigen, aus drei Zitaten, von denen nur das eine als authentisch durch-
geht, einen Schluss auf das Christentum in seiner Gesamtheit, seiner immen-
sen historischen und geographischen Ausdehnung zu ziehen? Kriterien der
Ausgewogenheit des Urteils will GM I 15 sicher nicht genügen, sondern eher
die These beliebt machen, dass das Christentum an seinen Extremen zu erken-
nen sei, weil es sich ansonsten (z. B. unter dem Deckmantel der Liebe) überaus
erfolgreich camoufliert und seine wahren Absichten verbirgt. Dass die beiden
lateinischen Quellen im Original statt in deutscher Übersetzung präsentiert
werden, suggeriert dokumentarische Nähe und wissenschaftliche Gelehrsam-
keit, bürdet aber zugleich dem Leser eine erhebliche Eigenanstrengung auf, da
er die lange Passage selbst übersetzen muss: Voraussetzung von Lateinkennt-
nissen im Dienste der Leserselektion.
Die wissenschaftliche Gelehrsamkeit - noch potenziert durch eingefügte
Sperrungen und die kommentierenden Anmerkungen in der Tertullian-Passa-
ge - ist freilich nur eine scheinbare: Der Leser soll denken, N. habe sich in die
Lektüre der originalen Texte vertieft, schöpfe aus tiefer Bildung, während er
sich doch in Wahrheit nur in James Anthony Froudes Das Leben Thomas Carly-
les sowie Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufldärung in Eu-
ropa bedient hat - und bei den gelehrten Glossen seines Freundes Overbeck.