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Stellenkommentar GM I 16, KSA 5, S. 284-285 211

16.
GM I 16 erweitert die moralgeschichtlichen Einzelerkenntnisse zu einem uni-
versalgeschichtlichen Schlaglichtpanorama, das von einem schroffen, unver-
söhnlichen Dualismus bestimmt ist: Seit „Jahrtausende[n]" (285, 27) wüte der
„Kampf" zwischen den zwei entgegengesetzten Wertepaarungen gut/schlecht
(für die Herren-Moral) und gut/böse (für die „Sklaven-Moral"), wobei das zwei-
te Paar „seit langem im Übergewichte" (285, 28 f.) sei. Immerhin aber gebe es
Orte, wo der Kampf fortdauere, und zwar im Geistigen, wonach „es heute viel-
leicht kein entscheidenderes Abzeichen der ,höheren Natur', der geistige-
ren Natur giebt, als zwiespältig in jenem Sinne und wirklich noch ein Kampf-
platz für jene Gegensätze zu sein" (286, 1-4). Dieser oft überlesene Einschub
impliziert immerhin, dass zu Höherem Berufene, also Vornehme der Gegenwart
oder der Zukunft die sklavischen Werteeinstellungen nicht schon restlos abge-
schüttelt haben, vielmehr im Gegenteil von ihnen imprägniert bleiben: Der Wi-
derstreit der Wertealternativen, nicht das Zurück zu einem herrenmoralischen
Naivismus und Nativismus ist offenbar charakteristisch. Und es bleibt offen,
ob die Zielperspektive tatsächlich - wie der polemische Ton von GM es zumeist
nahelegt - die völlige Überwindung der Sklavenmoral oder nicht doch viel
eher die Aufrechterhaltung des dynamischen, womöglich zu Großem beflü-
gelnden Widerstreits ist.
Unter der berüchtigten chiastischen Losung ,„Rom gegen Judäa, Judäa ge-
gen Rom'" (286, 6 f.) wird im Folgenden die gesamte Weltgeschichte durch die-
sen „todfeindlichen Widerspruch" (286, 8 f.) charakterisiert. Rom steht dabei
für das Römische Reich und für die Dominanz einer vornehmen Elite, Judäa
nicht nur für das Judentum, sondern ebenso für das als seine logische Fortset-
zung verstandene Christentum. Dabei sei Rom, das sich „heute" (287, 2) noch
vor „drei Juden" - nämlich Jesus, Petrus und Paulus - und „Einer Jü-
din" - Jesu Mutter Maria - beuge (287, 3-9), „ohne allen Zweifel unterlegen"
(287, 10). In der Renaissance hätte sich die vornehme Moral wieder Geltung
verschafft, sei aber sofort von der Reaktion Judäas, nämlich der „pöbelhaften
(deutschen und englischen) Ressentiments-Bewegung, welche man die Refor-
mation nennt" (287, 17 f.), wieder vernichtet worden, ebenso wie die vornehme
Kultur des Ancien Regime durch die Französische Revolution. Dann sei aber
etwas völlig Unerwartetes geschehen, indem Napoleon als Repräsentant des
„Vorrecht[s] der Wenigsten" (288, 2) aufgetreten sei, „diese Synthesis
von Unmensch und Übermensch..." (288, 7 f.). GM I 16 gibt eine Kurzfas-
sung der jüdisch-christlichen Unheilsgeschichte, die dann insbesondere in AC
breit ausgeführt wird. Der Abschnitt steht für die in N.s Spätwerk hervortreten-
de Romanophilie, die hier die sonst bei N. ausgeprägte Vorliebe fürs Archaisch-
 
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