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Stellenkommentar GM II 1, KSA 5, S. 291 227

Themistokles auf das Anerbieten des Simonides, ihn die Gedächtniskunst zu
lehren, geantwortet haben soll, er möchte lieber vergessen lernen: ,denn ich
erinnere sogar das, was ich nicht erinnern will; kann aber nicht vergessen, was
ich vergessen will.' Das Gleichgültige oder wenig Bedeutende verschwindet wie
von selbst; aber gerade die peinlichen Vorstellungen sind in der Regel mit so
eingreifenden Erfahrungen und Verhältnissen verbunden, dass der unwillkürli-
che Vorstellungslauf sie nicht fortschwemmt. Ausserdem kann in der Natur des
Individuums selber eine Tendenz liegen, an den peinlichen Vorstellungen mit
einer gewissen Hartnäckigkeit festzuhalten. Unter andern Verhältnissen kann
es natürlich gerade die Aufgabe sein, Vorstellungen zu vergessen, mit welchen
Lust verbunden ist. — Hier werden wir nur in Kürze die Arten und Weisen
betrachten, wie eine Vorstellung mehr oder weniger vollständig aus dem Be-
wusstsein verdrängt werden kann. Es sind die Gesetze des Verges-
sens im Gegensatz zu denen des Erinnerns." (Höffding 1887, 202; Nachweis
bei Brobjer 2001, 419) Die Hauptfrage besteht für Höffding also darin, wie man
Erinnerungen loswird, die einen verfolgen: „Ganz direkt lässt sich einer wider-
strebenden Vorstellung natürlich nicht entgegenarbeiten. Die Kunst des Ver-
gessens (oder, wie man sie auch genannt hat, des Abstrahierens) kann nur
darin bestehen, dass gewisse Vorstellungen vermittelst andrer verdrängt wer-
den. Wer vergessen will, der muss starke und grosse Vorstellungsreihen su-
chen, in welchen sein Denken aufgehen kann. Was für welche er aufsucht (Be-
lustigungen oder Bussübungen, Arbeit oder Phantasieren), das wird darauf be-
ruhen, wie sein Charakter ist, und was ihm in geistiger Beziehung zur
Verfügung steht. — Die Fähigkeit zur Selbsterziehung beruht grossenteils da-
rauf, ob man die Kunst des Vergessens üben kann. Glücklicherweise kommt
[...] die Natur der Kunst zu Hilfe." (Höffding 1887, 203, vgl. ebd., 308 f.).
Während Höffding von einer „Kunst" des Vergessen-Könnens spricht, die
von psychischer Gesundheit sowie Selbsterziehungskompetenz zeugt, scheint
in GM II 1 eher von einem körperlichen Mechanismus in Analogie zur Verdau-
ung die Rede zu sein: Sowohl im Umgang mit der physischen wie mit der geisti-
gen Nahrung (Sinneseindrücke etc. inbegriffen) ist es erforderlich, dass diese
Prozesse größtenteils unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen, das Sub-
jekt sich der Verstoffwechslung also normalerweise nicht bewusst ist. Das
„Hemmungsvermögen" der Vergesslichkeit sorgt in der Gedächtniskonzeption
von GM II 1 also gerade dafür, dass vieles gar nicht zu Bewusstsein kommt,
wodurch der offenbar limitierte Bewusstseinsplatz „für die vornehmeren Funk-
tionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen" (291,
24 f.) freigehalten wird. Die so verstandene Vergesslichkeit sorgt also weniger
dafür, das zu entsorgen, was einmal gewusst und bewusst war, sondern dafür,
den allermeisten Regungen überhaupt den Zugang zum Bewusstsein zu ver-
 
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