Stellenkommentar GM II 1, KSA 5, S. 292 231
der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie gewesen sein dürfte, und zwar
eine dort zu findende Erörterung zum Eigensinn: „Zunächst deutet Eigensinn
nichts weiter an als eine gewisse Festigkeit des momentanen Vorstellens, Füh-
lens, Thuns, dies kann sich bald wieder geben und so trotz seiner Stärke nicht
dauernd sein und nicht in Bezug auf denselben Gegenstand wiederkehren. Ei-
gensinn ist in diesem Fall nicht Stärke, sondern Schwäche, Unfähigkeit von
einem Vorstellen, Fühlen, Thun loszukommen. Durch Anregung eines mehr
mannichfaltigen und wechselnden Vorstellens, Fühlens, Thuns ist hier entgen-
zuwirken [sic]. Eigensinn kann aber auch das sein, was Herbart Gedächtniss
des Willens genannt hat, wo also unter gleichen Umstanden derselbe Wille
wiederkehrt. Dies muss geschont und begünstigt werden, doch ist darauf zu
achten, dass nicht Pedanterie entsteht, d. h. eisernes Festhalten an einer zufäl-
lig einmal so und so stattgehabten Ordnung, während eine andere ebenso gut
oder noch besser wäre." (Baumann 1879, 51; Unterstreichungen von N.s Hand.
Den zweiten Satz hat er am Rand mit einem Fragezeichen quittiert, die letzten
beiden Sätze mit Randanstreichungen und einem „gut". Das Gedächtnis be-
handelt Baumann 1879, 170-172, ohne dort allerdings dem Vergessen eigens
Raum zu geben.) Vgl. zur Frage, wie weit das Willensgedächtnis ein „aktives
[...] Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten" (292, 16-18) ist, Brusotti 2012b,
117 f., der die im Spätwerk N.s miteinander konkurrierenden Konzepte von Ak-
tivitität und Reaktivität untersucht; zur systematischen Deutung siehe Valver-
de 2005, 73.
292, 20 Entladung des Willens] Vgl. NK 322, 22-29.
292, 29-33 wie muss dazu der Mensch selbst vorerst berechenbar, regel-
mässig, nothwendig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstel-
lung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender thut, für sich als Zu-
kunft gut sagen zu können!] Könnte man bei der Lektüre von GM II 1 anfäng-
lich den Eindruck bekommen, das zunächst von gesunder Vergesslichkeit
bestimmte hominide Wesen habe sich aus pragmatischen Gründen die Fähig-
keit willentlicher Erinnerung zugelegt, um nämlich zu den Artgenossen in obli-
gationenrechtliche Verhältnisse eintreten und damit überhaupt Herrschaft
über die Zukunft gewinnen zu können, relativiert das Ende dieses Abschnitts
die mit einem solchen Eindruck womöglich verbundenen heroischen Assoziati-
onen: Als der Mensch zu einem versprechenden Tier wurde, geschah dies au-
genscheinlich nicht aus freien Stücken oder aus einem autonomen Willen zur
Zukunftsbeherrschung heraus, sondern durch Akte der Domestizierung. Der
Mensch wurde ein berechenbares Wesen, nicht nur, indem er lernte, „causal"
zu „denken", „überhaupt rechnen, berechnen" (292, 26-29), sondern indem
der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie gewesen sein dürfte, und zwar
eine dort zu findende Erörterung zum Eigensinn: „Zunächst deutet Eigensinn
nichts weiter an als eine gewisse Festigkeit des momentanen Vorstellens, Füh-
lens, Thuns, dies kann sich bald wieder geben und so trotz seiner Stärke nicht
dauernd sein und nicht in Bezug auf denselben Gegenstand wiederkehren. Ei-
gensinn ist in diesem Fall nicht Stärke, sondern Schwäche, Unfähigkeit von
einem Vorstellen, Fühlen, Thun loszukommen. Durch Anregung eines mehr
mannichfaltigen und wechselnden Vorstellens, Fühlens, Thuns ist hier entgen-
zuwirken [sic]. Eigensinn kann aber auch das sein, was Herbart Gedächtniss
des Willens genannt hat, wo also unter gleichen Umstanden derselbe Wille
wiederkehrt. Dies muss geschont und begünstigt werden, doch ist darauf zu
achten, dass nicht Pedanterie entsteht, d. h. eisernes Festhalten an einer zufäl-
lig einmal so und so stattgehabten Ordnung, während eine andere ebenso gut
oder noch besser wäre." (Baumann 1879, 51; Unterstreichungen von N.s Hand.
Den zweiten Satz hat er am Rand mit einem Fragezeichen quittiert, die letzten
beiden Sätze mit Randanstreichungen und einem „gut". Das Gedächtnis be-
handelt Baumann 1879, 170-172, ohne dort allerdings dem Vergessen eigens
Raum zu geben.) Vgl. zur Frage, wie weit das Willensgedächtnis ein „aktives
[...] Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten" (292, 16-18) ist, Brusotti 2012b,
117 f., der die im Spätwerk N.s miteinander konkurrierenden Konzepte von Ak-
tivitität und Reaktivität untersucht; zur systematischen Deutung siehe Valver-
de 2005, 73.
292, 20 Entladung des Willens] Vgl. NK 322, 22-29.
292, 29-33 wie muss dazu der Mensch selbst vorerst berechenbar, regel-
mässig, nothwendig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstel-
lung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender thut, für sich als Zu-
kunft gut sagen zu können!] Könnte man bei der Lektüre von GM II 1 anfäng-
lich den Eindruck bekommen, das zunächst von gesunder Vergesslichkeit
bestimmte hominide Wesen habe sich aus pragmatischen Gründen die Fähig-
keit willentlicher Erinnerung zugelegt, um nämlich zu den Artgenossen in obli-
gationenrechtliche Verhältnisse eintreten und damit überhaupt Herrschaft
über die Zukunft gewinnen zu können, relativiert das Ende dieses Abschnitts
die mit einem solchen Eindruck womöglich verbundenen heroischen Assoziati-
onen: Als der Mensch zu einem versprechenden Tier wurde, geschah dies au-
genscheinlich nicht aus freien Stücken oder aus einem autonomen Willen zur
Zukunftsbeherrschung heraus, sondern durch Akte der Domestizierung. Der
Mensch wurde ein berechenbares Wesen, nicht nur, indem er lernte, „causal"
zu „denken", „überhaupt rechnen, berechnen" (292, 26-29), sondern indem