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232 Zur Genealogie der Moral

man ihn - so darf man vermuten, ohne dass GM II 1 das ausführt - in Zwangs-
verhältnisse brachte, die sein ungeregeltes Dasein fortan regulierten - so dass
(fast) jeder schließlich einen Willen bekam, der in die Zukunft reichte und in
Zukunft die Rückzahlung von Schulden garantieren würde. Versprechen-Kön-
nen ist in den meisten Fällen kein Indiz für ungebundene Souveränität im Sin-
ne von Übersittlichkeit (vgl. demgegenüber GM II 2), sondern Ausdruck dafür,
wie stark ein Individuum in die soziale Pflicht genommen ist, seine Schuld(en)
tatsächlich dereinst zurückzuzahlen. Wie diese Zähmung vonstatten gegangen
sein soll, erörtert GM II im Folgenden eingehend. (Zur Sozialgeschichte des
Versprechens mag man anmerken, dass die einigermaßen realistische Aussicht
einer erfolgenden Rückzahlung schon sehr früh gegeben gewesen sein dürfte.
Jemand muss bereits verstehen, was der andere meint, wenn er sagt, er gebe
ihm morgen die heute ausgeliehene Steinaxt zurück, und zwar mit einem
Mehrwert, mit ,Zins'. In der menschheitsgeschichtlichen Frühzeit wird man das
besichert haben mit einem Pfand, einer Geisel oder dem Leib des Schuldners,
aber die Absicht zur Rückzahlung muss jeder verstanden haben, der weiß, was
ein Versprechen ist. Das wiederum heißt wohl, dass Zukunft bereits bekannt
und als möglicher Handlungsraum erschlossen sein müsste, dass man bereits
über eine Sprache verfügt hätte, die ein Futur kennt, um überhaupt verspre-
chen zu können.)
Die Wendung „gut sagen" (292, 33, vgl. GM II 2, KSA 5, 293, 33 u. GM II 3,
KSA 5, 294, 31 f.) hat bei manchen Übersetzern für Verwirrung gesorgt (vgl. z. B.
Strong 2006, 102 u. May 2009, 104). Ein Blick in das Deutsche Wörterbuch der
Brüder Grimm unter dem Lemma „gutsagen" kann weiterhelfen: „,bürgen, haf-
ten"' (Grimm 1854-1971, 9, 1473, vgl. ebd., 9, 1247).

2.
GM II 2 setzt zwei Hauptakzente: Zum einen resümiert der Abschnitt, wie lang-
wierig, gewaltsam und schwierig der Prozess der Zivilisierung verlaufen ist,
der die Menschen „regelmässig und folglich berechenbar" (293, 7 f.) gemacht,
sie zur „Sittlichkeit der Sitte" (293, 9 u. 293, 22) gezwungen und erzogen habe.
Zum andern fordert das „Wir" zu einem Wechsel der Perspektive auf, dazu,
sich „an's Ende des ungeheuren Prozesses" (293, 17) zu stellen, und behauptet,
dass dieser nur das „Mittel" gewesen sei, etwas anderes zu erzeugen, nämlich
„das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der
Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Indivi-
duum" (293, 21-23). Das Resultat der langen historischen Entwicklung ist dem-
nach nicht der disziplinierte Massenmensch, der umso besser funktioniert, je
 
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