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242 Zur Genealogie der Moral

„Hier wollen wir nur hervorheben, dass man fortschreitende Individualisie-
rung als das gemeinsame Merkmal der Entwickelung in allen ihren Formen
angeben kann. [...] Ein Individuum ist ein Wesen, welches dergestalt von seiner
Umwelt gesondert und von dieser unabhängig ist, dass es mit einer gewissen
Eigentümlichkeit auf dieselbe rückwirken kann. Völlig ausgeprägt finden wir
die Individualität jedoch, wie schon früher (S. 44 f.) berührt, nur auf dem Ge-
biete des Bewusstseinslebens, wo innere Mittelpunkte des Leidens und Wir-
kens gegeben sind. Dieses Weltgesetz erhält also seinen deutlichsten Ausdruck
auf dem geistigen Gebiete — als eine Art Ersatz dafür, dass sich hier das mehr
elementare Gesetz vom Bestehen der Energie nicht nachweisen lässt. Könnten
diese beiden Gesetze in innere Harmonie gebracht oder auf ein tiefer liegendes
Prinzip reduziert werden, so würden alle Rätsel gelöst sein." (Höffding 1887,
106, Unterstreichungen von N.s Hand; der erste Satz mit einem, der letzte mit
zwei Randstrichen und einem „NB" markiert. Zu einer anderen Passage auf
derselben Seite bei Höffding, die N. glossiert hat, siehe NK 248, 19-26). Die
zunächst psychologische Entwicklungstheorie wechselt in der Adaption von
GM II 2 also auf das weltgeschichtliche Parkett: Individualisierung entsteht
demnach durch Selbstbehauptung gegenüber der Moral.
Zum Freiheitsbegriff des souveränen Individuums siehe Constäncio 2012,
zum souveränen Individuum auch Hatab 2008c, 75-82 und Giacoia Junior 2011,
173-177, im Horizont der Frage nach dem Gedächtnis Thüring 2001a. Viesentei-
ner/Burnett 2010, 651 analysieren die Argumentation von Pfeuffer 2008a, das
souveräne Individuum sei imstande, die Andersheit der Anderen in allen Fa-
cetten wahrzunehmen. Dafür gibt es in GM II 2 jedoch wenig Anhaltspunkte.
Brusotti 2017, 236-244 argumentiert gegen Brian Leiter, der das souveräne Indi-
viduum wiederholt für eine Parodie hält. Parodiert wird nach Brusotti vielmehr
die moralische Terminologie Kants und Hartmanns.
293, 23 f. (denn „autonom" und „sittlich" schliesst sich aus)] Vgl. NK 293, 8-10,
Giacoia Junior 2011 sowie Brusotti 2017, bes. 238 f. u. 244. Brusotti stellt die
Kontrafaktur zu Eduard von Hartmann heraus, der (wie Kant) Autonomie und
Sittlichkeit identifiziert. Wenn Schmidt-Biggemann 1991, 46 zu 293, 23 f. notiert:
„Damit ist das Geltungsende der Moral erreicht, Autonomie und Moral, die sich
(bei Kant) gegenseitig bedingten, fallen auseinander", verkennt er, dass „sitt-
lich" bei N. gerade nicht mit der Moral in Kants Sinn assoziiert ist, sondern
mit der Sitte als herkommensbestimmtem Handlungsmuster. „Autonom", weil
unsittlich ist derjenige, der sich nicht der „Sittlichkeit der Sitte" unterwirft.
293, 34 wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt] Vgl. NK 273, 26-33; NK 277,
9-13 u. NK 359, 21-31.
294, 12-14 der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark
genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst „gegen das Schicksal" aufrecht zu
 
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