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Stellenkommentar GM II 2, KSA 5, S. 293-294 243

halten] Dass man sich „gegen das Schicksal" wappnen solle, indem man es
gering schätzt, ist eine bekannte Losung der Stoiker (Lucus Annaeus Seneca:
De vita beata IV 4: „fortunae neglegentia"). Hier scheint aber eher eine heroi-
sche Überwindung des Schicksals gemeint zu sein, wie sie dem Helden der
Tragödie gemäß der Gattungsnorm gerade nicht gelingen kann. In Josef Koh-
lers Schrift Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz wird vom „tragische[n]
Held[en]" gesagt, dass er, „nachdem er mit übermenschlicher Gewalt gegen
das Schicksal gekämpft hat, zuletzt nothwendig unterliegen muss", während
der Jude Shylock in The Merchant of Venice (vgl. NK 299, 16-19), „welcher gegen
die ganze Gesittung seiner Zeit [...] ankämpfte, zuletzt von den sittlichen Mäch-
ten des Schicksales zermalmt" (Kohler 1883, 96) werde.
294, 18-26 Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Ver-
antwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über
sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt
und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt: — wie wird er ihn
heissen, diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, dass er ein Wort dafür bei sich
nöthig hat? Aber es ist kein Zweifel: dieser souveraine Mensch heisst ihn sein
Gewissen...] Die Aufzeichnung KGW IX 3, N VII 3, 153, 38-42 erweckt den
Eindruck, N. habe für GM auch noch eine Abhandlung unter dem Titel „Verant-
wortlichkeit" geplant. Einen Anstoss dazu dürfte N. durch den 3. Paragraphen
von Rees Ursprung der moralischen Empfindungen erhalten haben; er ist beti-
telt: „Die Verantwortlichkeit und Willensfreiheit" (Ree 1877, 28-44 = Ree 2004,
143-153). Ree strengt - gegen Kant - den Nachweis an: „wenn wir so die Noth-
wendigkeit aller menschlichen Handlungen eingesehen haben, so machen wir
Niemanden mehr verantwortlich" (Ree 1877, 42 = Ree 2004, 151). Diese auf
strengen Determinismus gründende Abweisung von Verantwortlichkeit -
„[d]as Verantwortlichmachen [...] beruht [...] auf dem Irrthum, als ob der Wille
des Menschen frei sei" (Ree 1877, 41 = Ree 2004, 151) - vollzieht das Ende von
GM II 2 nicht nach, wobei nicht klar wird, ob diese offenbar auch als sozial
relevanter Habitus gedachte Verantwortlichkeit die Voraussetzung macht, dass
die souveränen Individuen anders handeln könnten als sie tatsächlich han-
deln.
„Gewissen" - ein Wort, das auch Politiker im Mund zu führen pfleg(t)en -
ist wiederum ein geduldiges Lasttier, wie N. aus Raoul Frarys Handbuch des
Demagogen lernen konnte: „Es ist ein in unsrer Natur beruhendes Gesetz, das
die Befriedigung unsrer Leidenschaft uns nur dann Genüge thut, wenn wir sei-
nerzeit auch unser Gewissen befriedigten. Beeilen wir uns hinzuzufügen, dass
das Gewissen nicht sonderlich anspruchsvoll, leicht irre zu führen und an
schmale Kost gewöhnt ist. Die Leidenschaft verlangt Wirklichkeit, das Gewis-
sen nimmt mit dem Scheine vorlieb." (Frary 1884, 166, N.s Unterstreichung,
 
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