Stellenkommentar GM II 3, KSA 5, S. 294 245
greifen musste: In Erinnerung bleibt nur, was Schmerzen bereitet, so dass das
Weh-Tun die privilegierte „Mnemotechnik" in „der ganzen Vorgeschichte"
(295, 12 f.) wurde. „Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der
Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen" (295, 24 f.). Das sei
in kultischen Opferpraktiken unmittelbar greifbar - „alle Religionen sind auf
dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten" (295, 29 f.), heißt es in
einer Klammer. „Asketik"- GM III wird dieses Thema dann ausführlich behan-
deln - sei nichts weiter als der Versuch, „ein paar Ideen [...] unauslöschlich,
allgegenwärtig, unvergessbar, ,fix"' (293, 33 f.) zu machen. Insbesondere in der
früher überaus harten Strafgesetzgebung sei dies greifbar gewesen. Offensicht-
lich bewegen wir uns nicht mehr im Feld der „Vorgeschichte" qua Prähistorie,
wenn dann die Rede auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Strafpraxis in
Deutschland kommt, die die grausamsten Folter- und Hinrichtungsmethoden
entwickelt habe, die im Einzelnen - vor allem unter Hinzuziehung einer von
N. nicht genannten Quelle, Albert Hermann Posts Bausteine für eine allgemeine
Rechtswissenschaft auf vergleichend- ethnologischer Basis - in Erinnerung geru-
fen werden (zu N.s Rezeption von Post siehe Kremer-Marietti 1984; Hildebrandt
1988; Stingelin 1989; Seltmann 1991; Stingelin 1991; Brusotti 1992b, 96-104;
Treiber 1992, 345-347; Gschwend 1999; Stingelin 2001, 175-177, Emden 2010a,
263-266 und Emden 2010b, 129 f.). Diese Grausamkeiten dienten nur dem
Zweck, „endlich fünf, sechs ,ich will nicht' im Gedächtnisse" zu behalten, „in
Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vor-
theilen der Societät zu leben" (297, 1-4).
Im Anschluss an Überlegungen in GM II 3 versucht Maurizio Lazzarato zu
zeigen, wie im sogenannten Neoliberalismus die Schulden das Subjekt fabrizie-
ren: „Die Schulden implizieren also eine Subjektivierung, die Nietzsche eine
,Arbeit am Selbst, eine Tortur des Selbst' nannte. Diese Arbeit ist die Produkti-
on des individuellen Subjekts, das gegenüber seinem Gläubiger verantwortlich
und verschuldbar ist." (Lazzarato 2012, 52, siehe Szews 2016).
294, 28-295, 2 Sein Gewissen?... Es lässt sich voraus errathen, dass der Begriff
„Gewissen", dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung
begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat.
Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen —
das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht] Dass das
Gewissen eine historisch kontingente Erscheinung und keineswegs Ausdruck
eines unwandelbaren moralischen Bewusstseins ist, wurde N. beispielsweise
bei der Lektüre von Post 1880-1881, 2, 236 vor Augen gestellt: „Beobachtet man
nun die Rechtssitten einzelner Völker zu bestimmten Zeiten, so sieht man, dass
sie stets im engsten Zusammenhänge mit der ethnisch-morphologischen Con-
stitution bestimmter Organisationskreise stehen und mit Aenderungen in dieser
greifen musste: In Erinnerung bleibt nur, was Schmerzen bereitet, so dass das
Weh-Tun die privilegierte „Mnemotechnik" in „der ganzen Vorgeschichte"
(295, 12 f.) wurde. „Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der
Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen" (295, 24 f.). Das sei
in kultischen Opferpraktiken unmittelbar greifbar - „alle Religionen sind auf
dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten" (295, 29 f.), heißt es in
einer Klammer. „Asketik"- GM III wird dieses Thema dann ausführlich behan-
deln - sei nichts weiter als der Versuch, „ein paar Ideen [...] unauslöschlich,
allgegenwärtig, unvergessbar, ,fix"' (293, 33 f.) zu machen. Insbesondere in der
früher überaus harten Strafgesetzgebung sei dies greifbar gewesen. Offensicht-
lich bewegen wir uns nicht mehr im Feld der „Vorgeschichte" qua Prähistorie,
wenn dann die Rede auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Strafpraxis in
Deutschland kommt, die die grausamsten Folter- und Hinrichtungsmethoden
entwickelt habe, die im Einzelnen - vor allem unter Hinzuziehung einer von
N. nicht genannten Quelle, Albert Hermann Posts Bausteine für eine allgemeine
Rechtswissenschaft auf vergleichend- ethnologischer Basis - in Erinnerung geru-
fen werden (zu N.s Rezeption von Post siehe Kremer-Marietti 1984; Hildebrandt
1988; Stingelin 1989; Seltmann 1991; Stingelin 1991; Brusotti 1992b, 96-104;
Treiber 1992, 345-347; Gschwend 1999; Stingelin 2001, 175-177, Emden 2010a,
263-266 und Emden 2010b, 129 f.). Diese Grausamkeiten dienten nur dem
Zweck, „endlich fünf, sechs ,ich will nicht' im Gedächtnisse" zu behalten, „in
Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vor-
theilen der Societät zu leben" (297, 1-4).
Im Anschluss an Überlegungen in GM II 3 versucht Maurizio Lazzarato zu
zeigen, wie im sogenannten Neoliberalismus die Schulden das Subjekt fabrizie-
ren: „Die Schulden implizieren also eine Subjektivierung, die Nietzsche eine
,Arbeit am Selbst, eine Tortur des Selbst' nannte. Diese Arbeit ist die Produkti-
on des individuellen Subjekts, das gegenüber seinem Gläubiger verantwortlich
und verschuldbar ist." (Lazzarato 2012, 52, siehe Szews 2016).
294, 28-295, 2 Sein Gewissen?... Es lässt sich voraus errathen, dass der Begriff
„Gewissen", dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung
begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat.
Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen —
das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht] Dass das
Gewissen eine historisch kontingente Erscheinung und keineswegs Ausdruck
eines unwandelbaren moralischen Bewusstseins ist, wurde N. beispielsweise
bei der Lektüre von Post 1880-1881, 2, 236 vor Augen gestellt: „Beobachtet man
nun die Rechtssitten einzelner Völker zu bestimmten Zeiten, so sieht man, dass
sie stets im engsten Zusammenhänge mit der ethnisch-morphologischen Con-
stitution bestimmter Organisationskreise stehen und mit Aenderungen in dieser