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246 Zur Genealogie der Moral

wechseln. Es wechselt also auch das individuelle Rechtsgefühl mit, und das
im Einzelnen vollständig souverän befehlende Gewissen befiehlt in einem an-
deren etwas ganz anderes. Wenn der König von Asante für seinen verstorbenen
Vorgänger unzählige Menschen schlachtet, damit derselbe im jenseitigen Le-
ben ausreichende Bedienung habe, so treibt ihm dazu ebenso sehr sein Gewis-
sen, als wenn der Tscherkesse für seinen erschlagenen Vater oder Bruder mass-
lose Blutrache gegen das Geschlecht des Mörders übt, oder ein Angehöriger
der christlichen Kirche einem solchen Mörder verzeiht." Aber nach Post sind
die verschiedenen Erscheinungsformen und „Ursachen der Rechtsgefühle und
aller moralischen Gefühle" keineswegs beliebig, sondern in „ethnisch-morpho-
logischen Organisationen" der Welt insgesamt begründet (ebd.) - und Post
scheut sich nicht, schließlich noch höchste religiöse Autorität aufzurufen: „Es
versteht sich, dass am letzten Ende vom Weltgeiste ausgeht und auch das
Recht daher göttlichen Ursprungs ist." (Ebd., 237) Die Analyse des Gewissens
in GM ist davon weit entfernt, auch wenn das Gewissen in GM II 3 als vollkom-
mener Ausdruck des gereiften, „souveränen Individuums" dargestellt wird -
sehr im Unterschied zum schlechten Gewissen, von dem später in der Zweiten
Abhandlung die Rede sein wird. Den psychologischen Mechanismus der Ge-
wissensbildung hat sich N. bei der Lektüre von Harald Höffdings Psychologie
in Umrissen vergegenwärtigt: „Die Entwickelung des ethischen Gefühls ermög-
licht ein Vorbeugen der Reue (der ethischen Täuschung), indem die Bedenk-
lichkeit schon der möglichen That, nicht erst der ausgeführten gegenüber, zur
Geltung gelangt. Im Gewissen bekundet sich sowohl die richtende Gewalt
des Ideals dem gegenüber, was der Vergangenheit angehört, als die Fähigkeit,
das künftige Handeln einer idealen Prüfung zu unterwerfen. Dasselbe ist die
ethische Erinnerung. In demselben verschmelzen die Erfahrungen der Vergan-
genheit mit allem dem, was weitschauende Reflexion lehrt, zu einer Gesamt-
macht, die sich mit der Unmittelbarkeit und Stärke des Instinkts oder des Trie-
bes äussern kann. Das Gewissen ist die individuellste und konkreteste Form
des ethischen Gefühls." (Höffding 1887, 329, N.s Unterstreichungen) Entschei-
dend scheint N. bei seiner Höffding-Lektüre gewesen zu sein, dass das Gewis-
sen eben nicht nur retrospektiv agiert, sondern in die Zukunft ausgreift und,
wie er unterstreicht, das „künftige Handeln" beurteilt. Das „souveräne Indivi-
duum" soll ja nach GM II 2 gerade souverän sein dadurch, dass es für seine
eigene Zukunft bürgen kann, was in 294, 31-295, 1 noch einmal wiederholt wird
(genau diese Passage zieht Gardner 2009, 8 heran, um zu belegen, „that the T'
plays for Nietzsche a fundamental, pervasive, and ineliminable role" - und
dabei auszuklammern, dass es in GM II 3 um das historische Gewordensein
souveräner Individuuen zu tun ist, aber das „Ich" gerade keine Rolle spielt).
295, 6-10 „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt
man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstände, dieser leib-
 
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