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Stellenkommentar GM II 5, KSA 5, S. 299 267

Rechtsverhältnisse eines hervor: das Schuldrecht. Die Idee der Haftung ist zu-
erst eine Idee der Haftung mit Leib und Leben: in anderer Weise ist der ur-
sprünglichen Zeit eine Haftung gar nicht denkbar. Daher wird der Schuldner,
welcher nicht zahlt, dem Gläubiger verfangen [von N. handschriftlich korrigiert
in: verfallen]: dieser kann ihn zum Sclaven machen, er kann ihn als Sclaven
verkaufen, er kann ihn tödten — doch das letztere erleidet einige Modificati-
on." (Kohler 1885a, 17, N.s Unterstreichungen) Brusotti 1992b, 93 weist auf eine
weitere Stelle hin, die gleichfalls wie GM II 5 die „Heiligkeit" des vom Schuld-
ner gegebenen „Versprechens" herausstreicht: „Das drastische Mittel der rea-
len Personengebundenheit war das Medium, durch welches sich das ideale
Band der Versprechenshaftung, das ideale Band der Obligation entwickelte.
Leib, Freiheit, Ehre, Seelenheil, alles wurde in die Schanze geworfen, damit
die Heiligkeit des Versprechens triumphiren konnte." (Kohler 1885a, 20, N.s
Unterstreichungen. An den Rand hat er geschrieben: „Pflicht".) „Nietzsche
übernimmt also von Kohler den übrigens an sich naheliegenden Zusammen-
hang zwischen Schulden und Versprechen. Dabei ergänzt er die von Kohler
betonte Seite - [...] - mit einer zweiten, derjenigen, woran ihm am meisten
liegt: mit der Mnemotechnik, womit der Schuldner selbst die eigene Fähigkeit
zu versprechen entwickelt. Hier entsteht Nietzsche zufolge nicht nur wie bei
Kohler die Institution - die Anerkennung des Versprechens seitens des Gläubi-
gers -, sondern auch das psychische Vermögen' selbst: das Gedächtnis des
Willens" (Brusotti 1992b, 93 f.). Treiber 1993, 217-221 macht noch auf weitere,
ähnliche Stellen aus Josef Kohlers Studie Shakespeare vor dem Forum der Juris-
prudenz (Kohler 1883, 8, 19, 30-32) aufmerksam, die allerdings nicht unter N.s
Büchern überliefert ist. Kohler steht in entschiedener Opposition zu Rudolf von
Ihering, den manche Rechtshistoriker für eine direkte Inspirationsquelle N.s
halten (Kerger 1988 u. Kerger 2001), ohne dass es dafür doch konkrete Belege
gäbe: Iherings Ansätze nimmt N. vermittelt über seinen Kritiker Kohler wahr.
Kohler wiederum war sich 1908 in einem Aufsatz unter dem Titel Nietzsche
und die Rechtsphilosophie sehr wohl im Klaren darüber, dass N. ihn ausgiebig
rezipiert hatte (Kohler 1908, 355 f. = Kohler 2001, 263 f.).
Stellen wie 299, 8, wo ausdrücklich von einem „Vertrag" die Rede ist, geben
manchen Interpreten Anlass zur Frage, inwiefern N. an klassische Positionen
des Kontraktualismus anschließt oder sich von ihnen absetzt (z. B. Clark 1994,
28 f.; Cooper 2008, 622). Die Passagen über die Gläubiger-Schuldner-Beziehung
als einer ganz ursprünglichen menschlichen Sozialbeziehung, die erst das Ver-
mögen willentlichen Erinnerns erzeugt, scheint tatsächlich von der Ursprüng-
lichkeit eines Vertrags auszugehen; doch im Unterschied zu den herkömmli-
chen Vertragstheorien handelt es sich nicht um einen Vertrag, den ein ganzes
Volk untereinander abschießt, sondern um eine - in unhistorischer Terminolo-
 
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