268 Zur Genealogie der Moral
gie - rein privatrechtliche Angelegenheit. Und es ist nirgends die Rede davon,
dass sich die Vertragspartner im Kleinen irgendwo und irgendwann zu einem
Vertrag im Großen, einem historischen oder hypothetischen Gesellschaftsver-
trag zusammenfänden; im Gegenteil wird in GM II 17 gegen ein vertragstheore-
tisches Verständnis der Staatsentstehung ausdrücklich polemisiert (vgl.
NK 324, 26-30). In starre kontraktualistische Schemata lassen sich die verschie-
denen Versionen von Moralgeschichte jedenfalls nicht hineinzwingen. Dass
menschliche Individuen zunächst einmal vertragschließende Wesen seien, ist
eine Auffassung, die N. etwa bei der Lektüre von Salomon Strickers Physiologie
des Rechts untergekommen sein dürfte: Dem Pathologen und Physiologen Stri-
cker zufolge beruht „der ganze sociale Verkehr auf Verträgen [...], welche wir
zwar nicht immer ausdrücklich abschliessen, in die wir aber gleichsam hinein-
wachsen. / Sobald das Kind anfängt, sich sprachlich zu äussern und die Spra-
che zu verstehen, schliesst es mit der Umgebung Verträge ab" (Stricker 1884,
62).
299, 11-16 oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Se-
ligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der
Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand, —
es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe]
Vgl. Kohler 1885a, 18 f.: „die Härte des Schuldrechts wird festgehalten durch
das Vertragsrecht; sobald die Rechtsfolgen nicht mehr von selbst eintreten,
sucht man sich ihrer auf dem Wege der Vertragsclausel zu versichern: ist der
Schuldner dem Gläubiger nicht von selbst verfallen, so muss er sich dem Gläu-
biger verpfänden: er verpfändet seinen Leib, seine Freiheit, seine Ehre; er ver-
pfändet seine Gliedmassen, er verpfändet seine bürgerliche /19/ Stellung, er
verpfändet selbst sein Seelenheil". Und die konkretere historische Information
zu Ägypten steht wenige Zeilen davor: „und war der Schuldner todt, so vergriff
man sich an seinem Leichnam: dass dem Leichnam des Schuldners die Ruhe
des Grabes entzogen wird, ist eine Sitte, die sich bei den Aegyptern fand, die
noch in die christlichen Zeiten fortdauerte" (ebd., 18, jeweils N.s Unterstrei-
chungen). Eine Parallele gibt es auch in Kohlers Shakespeare vor dem Forum
der Jurisprudenz (Kohler 1883, 19, vgl. hierzu Treiber 1993, 217).
299, 16-19 Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners
alle Arten Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunter-
schneiden als der Grösse der Schuld angemessen schien] Vgl. Kohler 1885a, 19:
„nunmehr tritt jene Clausel auf, worin der Schuldner sein Pfund Fleisch ver-
schreibt — eine Clausel, welche durch den schöpferischen Genius des grössten
Dichters für alle Zeiten ihre typische Gestaltung erhalten hat; es kommen Clau-
seln, wie jene, worin sich der Schuldner im Nichtzahlungsfalle gewissen Be-
gie - rein privatrechtliche Angelegenheit. Und es ist nirgends die Rede davon,
dass sich die Vertragspartner im Kleinen irgendwo und irgendwann zu einem
Vertrag im Großen, einem historischen oder hypothetischen Gesellschaftsver-
trag zusammenfänden; im Gegenteil wird in GM II 17 gegen ein vertragstheore-
tisches Verständnis der Staatsentstehung ausdrücklich polemisiert (vgl.
NK 324, 26-30). In starre kontraktualistische Schemata lassen sich die verschie-
denen Versionen von Moralgeschichte jedenfalls nicht hineinzwingen. Dass
menschliche Individuen zunächst einmal vertragschließende Wesen seien, ist
eine Auffassung, die N. etwa bei der Lektüre von Salomon Strickers Physiologie
des Rechts untergekommen sein dürfte: Dem Pathologen und Physiologen Stri-
cker zufolge beruht „der ganze sociale Verkehr auf Verträgen [...], welche wir
zwar nicht immer ausdrücklich abschliessen, in die wir aber gleichsam hinein-
wachsen. / Sobald das Kind anfängt, sich sprachlich zu äussern und die Spra-
che zu verstehen, schliesst es mit der Umgebung Verträge ab" (Stricker 1884,
62).
299, 11-16 oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Se-
ligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der
Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand, —
es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe]
Vgl. Kohler 1885a, 18 f.: „die Härte des Schuldrechts wird festgehalten durch
das Vertragsrecht; sobald die Rechtsfolgen nicht mehr von selbst eintreten,
sucht man sich ihrer auf dem Wege der Vertragsclausel zu versichern: ist der
Schuldner dem Gläubiger nicht von selbst verfallen, so muss er sich dem Gläu-
biger verpfänden: er verpfändet seinen Leib, seine Freiheit, seine Ehre; er ver-
pfändet seine Gliedmassen, er verpfändet seine bürgerliche /19/ Stellung, er
verpfändet selbst sein Seelenheil". Und die konkretere historische Information
zu Ägypten steht wenige Zeilen davor: „und war der Schuldner todt, so vergriff
man sich an seinem Leichnam: dass dem Leichnam des Schuldners die Ruhe
des Grabes entzogen wird, ist eine Sitte, die sich bei den Aegyptern fand, die
noch in die christlichen Zeiten fortdauerte" (ebd., 18, jeweils N.s Unterstrei-
chungen). Eine Parallele gibt es auch in Kohlers Shakespeare vor dem Forum
der Jurisprudenz (Kohler 1883, 19, vgl. hierzu Treiber 1993, 217).
299, 16-19 Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners
alle Arten Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunter-
schneiden als der Grösse der Schuld angemessen schien] Vgl. Kohler 1885a, 19:
„nunmehr tritt jene Clausel auf, worin der Schuldner sein Pfund Fleisch ver-
schreibt — eine Clausel, welche durch den schöpferischen Genius des grössten
Dichters für alle Zeiten ihre typische Gestaltung erhalten hat; es kommen Clau-
seln, wie jene, worin sich der Schuldner im Nichtzahlungsfalle gewissen Be-