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272 Zur Genealogie der Moral

300, If. die Wollust „de faire le mal pour le plaisir de le faire"] Prosper Merimee
schrieb an seine „Unbekannte" (Jenny Dacquin): „Sachez aussi qu'il n'y a rien
de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire." (Merimee o. J.,
1, 8. „Sie sollten auch wissen, dass es nichts Häufigeres gibt, als das Böse
zu tun um des Vergnügens willen, es zu tun.") Vollständig und mit Nennung
Merimees hat N. den Satz bereits in MA I 50, KSA 2, 71, 27-29 zitiert. Zur Inter-
pretation siehe z. B. Ponton 2007, 162. Die Angabe von William David Williams
in Nietzsche 1972, 145, der Ausspruch stamme aus Baudelaires Journal intime,
lässt sich nicht verifizieren.
300, 12 f. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausam-
keit.] Vgl. NK 298, 15-19. Welche Schwierigkeiten es systematisch orientierten
Auslegern bereitet, die „Grausamkeit" in ein positives Tugendkonzept zu integ-
rieren, das sie bei N. angelegt sehen, macht Swanton 2011, 292 f. augenfällig.
Soll 1994 wiederum versucht, die Freude an der Grausamkeit aus einer Psycho-
logie des Willens zur Macht herzuleiten. Die Grausamkeit hat tiefverwurzelte
moralische Vorurteile der N.-Exegeten gegen sich.

6.
GM II 6 exponiert eingangs noch einmal, dass alle relevanten moralischen Be-
griffe verkappte obligationenrechtliche Begriffe seien, um dann der „Ideen-Ver-
häkelung ,Schuld und Leid"' (300, 24) weiter nachzugehen, die im Privileg des
geprellten Gläubigers gründen, sich bei ausstehender Rückzahlung am Leiden
des Schuldners gütlich tun zu dürfen. Die in diesem Abschnitt prominent ge-
machte psychohistorische These besagt nun, dass die Verursachung von Lei-
den einen starken Genuss darstelle, der die Unlust über die ausgebliebene
Rückzahlung zumindest aufwiege und womöglich noch übertreffe, „ein eigent-
liches Fest" (300, 30) darstelle. So schwer das dem empfindlichen, verzärtel-
ten und heuchlerischen Menschen der Gegenwart eingehe, so wenig dürfe man
doch leugnen, dass „der älteren Menschheit" (301, 11 f.), die nach den Zeitmar-
kern „Autodafe" (301, 28) und „Don Quixote" (301, 31) noch weit in die soge-
nannte Neuzeit hineingereicht haben muss, das „Bedürfniss nach Grausam-
keit" (301, 13 f.) „als normale Eigenschaft des Menschen" (301, 16 f.) gegolten
haben müsse, „somit als Etwas, zu dem das Gewissen herzhaft J a sagt!" (301,
17 f.). Als Beleg dient dabei die Festkultur: Weder Fürstenhochzeiten noch
Volksfeste seien einst ohne ritualisierte Grausamkeiten abgegangen, und vor-
nehme Leute hätten sich „Wesen" gehalten, „an denen man unbedenklich sei-
ne Bosheit und grausame Neckerei auslassen konnte" (301, 30 f.).
 
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