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Stellenkommentar GM II 6, KSA 5, S. 300 275

d. h. alles Unglück ist Strafe, die Empfindung beim Anschaun der Tragödie ist
der im Gerichtshof verwandt." (KGW II 3, 7, 12-16) Arenas-Dolz 2012, 221 hat
wiederum nachgewiesen, dass N. hier auf Robert Zimmermanns Studien und
Kritiken zur Philosophie und Aesthetik (Zimmermann 1870, 2, 135) sowie auf
Gustav Dronkes Die religiösen und sittlichen Vorstellungen des Aeschylos und
Sophokles (Dronke 1861, 38) zurückgreift, jedoch findet sich bei beiden jene
Paarung gerade nicht, die in GM II 6 wiederkehren sollte: „Schuld und Leid".
Mit anderen Worten hält N. 1870 im Bestreben, seinen Studenten die völlige
Andersartigkeit griechischen Schicksalsdenkens augenfällig zu machen, die
Idee von „Schuld und Leid in genauer Proportion" für eine in jüngerer Zeit
dominant gewordene Idee, die sich entsprechend in der modernen Dramenpro-
duktion auspräge, während die tragischen Griechen mit einem Schicksal als
unverfügbarem Verhängnis gerechnet hätten, mit dem sich keine Proportional-
kalküle von Schuld und Leid fabrizieren ließen. Unter dem Eindruck von N.s
rechtshistorischen Studien im Jahr 1887 erscheint diese Idee der Proportionali-
tät von Schuld und Leid als etwas zutiefst Archaisches - eben angelegt in der
,obligationenrechtlichen' Mnemotechnik. Zugleich dürfte N. aber auch den un-
auflöslichen Zusammenhang von Schuld und Leid in der christliche Ethik im
Blick haben, welche die Zwillingsformel „Schuld und Leid" erst populär hat
werden lassen.
300, 26-301, 1 Insofern Leiden-machen im höchsten Grade wohl that, insofern
der Geschädigte für den Nachtheil, hinzugerechnet die Unlust über den Nachtheil,
einen ausserordentlichen Gegen-Genuss eintauschte: das Leiden-machen, —
ein eigentliches Fest, Etwas, das, wie gesagt, um so höher im Preise stand, je
mehr es dem Range und der gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers wider-
sprach.] Das Leiden-machen-Wollen ist nach Schopenhauers Preisschrift über
die Grundlage der Moral, die N. 1884 zum wiederholten Mal studiert hat (vgl.
NK 252, 4-9; NK KSA 5, 50, 31-51, 7 und NK KSA 5, 106, 24-107, 11) das, was
Grausamkeit ausmacht, die prinzipiell von Egoismus zu unterscheiden sei:
„Der Egoismus kann zu Verbrechen und Unthaten aller Art führen: aber der
dadurch verursachte Schaden und Schmerz Anderer ist ihm bloß Mittel, tritt
also nur accidentiell dabei ein. Bosheit und Grausamkeit hingegen sind die
Leiden und Schmerzen Anderer Zweck an sich und dessen Erreichen Genuß.
Dieserhalb machen jene eine höhere Potenz moralischer Schlechtigkeit aus.
Die Maxime des äußersten Egoismus ist: neminem juva, imo omnes, si forte
conducit (also immer noch bedingt), laede. Die Maxime der Bosheit ist: Omnes,
quantum potes, laede." (Schopenhauer 1873-1874, 4/2, 200) Schopenhauer
spricht darüber sein moralisches Verdammungsurteil, das er moralphiloso-
phisch für unbedingt begründet hält. GM II 6 hingegen deklariert in der kalten
moralgenealogischen Analyse die Grausamkeit als den Normalfall bei dispro-
 
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