Stellenkommentar GM II 8, KSA 5, S. 305 293
Dieu, la Liberte de l'Homme et l'Origine du Mal (1710) darauf ab, zu zeigen, dass
eine Welt, in der menschliche Freiheit möglich und wirklich ist, besser als eine
Welt sei, in der sie fehlt, hat also der Theodizee-Frage eine anthropozentrische
Wendung gegeben. GM II 7 verlegt die „Philosophen-Erfindung" (305, 9) der
Willensfreiheit nun ins alte Griechenland und akzentuiert sie theozentrisch:
Nicht um des Menschen, sondern um der Götter willen werde sie angeblich
von den Philosophen behauptet. Nicht die Menschen sollen sich ihrer erfreuen,
sondern die Götter bei der Betrachtung menschlichen Tuns. Aber hinter der
Einkleidung ist das den griechischen Philosophen unterstellte Argument noch
dasselbe wie bei Leibniz: Eine Welt ohne Willensfreiheit ist schlechter als eine
Welt mit Willensfreiheit. Bloß sind die Richter nicht die Menschen, sondern
die Götter. Der Witz in der Willensfreiheitserfindungshypothese von GM II 7
besteht darin, dass die Philosophen, die sich angeblich nur um die menschli-
chen Belange kümmern, tatsächlich als Sachwalter der Götter auftreten, deren
Freude sie mehren wollen. Die Philosophen erweisen sich also als verkappte
Theologen. Diese Fundamentalkritik an allen bisherigen Philosophen wird sich
in N.s Schriften bis Anfang 1889 noch weiter verschärfen: „Der Verbrecher der
Verbrecher ist folglich der Philosoph." (AC GWC Dritter Satz, KSA 6, 254,
13 f.)
8.
Obwohl der Beginn von GM II 8 unterstellt, das hier Behauptete sei den Lesern
durch das Vorangegangene schon bekannt - „wie wir sahen" (305, 29 f.) -, ist
dies gerade nicht der Fall. Das Schuldgefühl gründe, so wird nämlich hier ge-
sagt, „in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es
giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger
und Schuldner" (305, 30-306, 1). In den vorangehenden Abschnitten war zwar
ausgiebig davon die Rede, dass es sich beim Gläubiger-Schuldner-Verhältnis
um eine ganz basale, ja die basale Rechtsbeziehung handle (vgl. NK ÜK
GM II 4), aber bis zur Behauptung, sie sei überhaupt das „älteste und ursprüng-
lichste" Verhältnis zwischen Personen, verstieg sich der Sprechende bislang
noch nicht. Entweder nimmt man nun die Äußerung cum grano salis als erneu-
te Betonung der Basalität dieses Verhältnisses, die andere - ebenso wichtige -
zwischenmenschliche Verhältnisse nicht auszuschließen braucht. Oder aber
man nimmt sie beim Wort, was nach sich zöge, dass man scheinbar natürliche
Personenverhältnisse wie das zwischen Mutter und Kind oder zwischen Ge-
schwistern ebenfalls als Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse deuten müsste (man
könnte mit Stricker 1884, 62 von ganz ursprünglichen Vertragsverhältnissen
Dieu, la Liberte de l'Homme et l'Origine du Mal (1710) darauf ab, zu zeigen, dass
eine Welt, in der menschliche Freiheit möglich und wirklich ist, besser als eine
Welt sei, in der sie fehlt, hat also der Theodizee-Frage eine anthropozentrische
Wendung gegeben. GM II 7 verlegt die „Philosophen-Erfindung" (305, 9) der
Willensfreiheit nun ins alte Griechenland und akzentuiert sie theozentrisch:
Nicht um des Menschen, sondern um der Götter willen werde sie angeblich
von den Philosophen behauptet. Nicht die Menschen sollen sich ihrer erfreuen,
sondern die Götter bei der Betrachtung menschlichen Tuns. Aber hinter der
Einkleidung ist das den griechischen Philosophen unterstellte Argument noch
dasselbe wie bei Leibniz: Eine Welt ohne Willensfreiheit ist schlechter als eine
Welt mit Willensfreiheit. Bloß sind die Richter nicht die Menschen, sondern
die Götter. Der Witz in der Willensfreiheitserfindungshypothese von GM II 7
besteht darin, dass die Philosophen, die sich angeblich nur um die menschli-
chen Belange kümmern, tatsächlich als Sachwalter der Götter auftreten, deren
Freude sie mehren wollen. Die Philosophen erweisen sich also als verkappte
Theologen. Diese Fundamentalkritik an allen bisherigen Philosophen wird sich
in N.s Schriften bis Anfang 1889 noch weiter verschärfen: „Der Verbrecher der
Verbrecher ist folglich der Philosoph." (AC GWC Dritter Satz, KSA 6, 254,
13 f.)
8.
Obwohl der Beginn von GM II 8 unterstellt, das hier Behauptete sei den Lesern
durch das Vorangegangene schon bekannt - „wie wir sahen" (305, 29 f.) -, ist
dies gerade nicht der Fall. Das Schuldgefühl gründe, so wird nämlich hier ge-
sagt, „in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es
giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger
und Schuldner" (305, 30-306, 1). In den vorangehenden Abschnitten war zwar
ausgiebig davon die Rede, dass es sich beim Gläubiger-Schuldner-Verhältnis
um eine ganz basale, ja die basale Rechtsbeziehung handle (vgl. NK ÜK
GM II 4), aber bis zur Behauptung, sie sei überhaupt das „älteste und ursprüng-
lichste" Verhältnis zwischen Personen, verstieg sich der Sprechende bislang
noch nicht. Entweder nimmt man nun die Äußerung cum grano salis als erneu-
te Betonung der Basalität dieses Verhältnisses, die andere - ebenso wichtige -
zwischenmenschliche Verhältnisse nicht auszuschließen braucht. Oder aber
man nimmt sie beim Wort, was nach sich zöge, dass man scheinbar natürliche
Personenverhältnisse wie das zwischen Mutter und Kind oder zwischen Ge-
schwistern ebenfalls als Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse deuten müsste (man
könnte mit Stricker 1884, 62 von ganz ursprünglichen Vertragsverhältnissen